Shantaram
unbeschreiblich. Eine wunderbare Erfahrung. Diese Nacht hat mir die Augen geöffnet – seitdem sehe ich klarer. Manchmal bricht man sich das Herz auf die richtige Art, falls du verstehst, was ich meine.«
Ich war mir durchaus nicht sicher, was sie meinte, doch als Karla meine Reaktion abwartete, nickte ich.
»Wenn du dir das Herz auf die richtige Art brichst, ahnst und fühlst du etwas vollkommen Neues in dir – eine andere Dimension«, sagte sie. »Etwas, das nur du so wissen und fühlen kannst. Nach jener Nacht wusste ich, dass ich dieses Gefühl nur hier in Indien bewahren kann. Ich war mir sicher – obwohl ich es nicht erklären konnte –, dass ich hier mein Zuhause gefunden habe, dass ich mich sicher und geborgen fühlen kann. Deshalb bin ich geblieben …«
»Was macht er genau?«
»Was?«
»Dein Boss – was macht er?«
»Import und Export.«
Sie verfiel in Schweigen und ließ den Blick über die anderen Tische schweifen.
»Fehlt dir deine Heimat?«
»Meine Heimat?«
»Ja – ich meine, dein anderes Zuhause. Sehnst du dich nie nach der Schweiz zurück?«
»Doch, irgendwie schon. Ich komme aus Basel – warst du schon mal dort?«
»Nein, ich war noch nie in Europa.«
»Solltest du dir mal anschauen. Und wenn du dort bist, statte Basel einen Besuch ab. Es ist eine sehr europäische Stadt. Mittendurch fließt ein Fluss, der Rhein, der die Stadt in Großbasel und Kleinbasel aufteilt. Jede Hälfte hat ihren eigenen Stil und ihr eigenes Lebensgefühl – es ist, als würdest du in zwei Städten gleichzeitig leben. Eine Zeitlang passte das zu mir. Außerdem treffen in Basel drei Länder aufeinander – du kannst einfach über die Grenze nach Frankreich oder Deutschland gehen. Du kannst in Frankreich frühstücken, Café au lait mit Baguette, du weißt schon, in der Schweiz lunchen und in Deutschland zu Abend essen. Und dabei fährst du nur ein paar Kilometer. Basel fehlt mir mehr als die Schweiz.«
Sie verstummte, holte tief Luft und blickte unter ihren weichen, ungeschminkten Wimpern zu mir auf.
»Entschuldige. Ich erteile dir eine Geografiestunde.«
»Nein, nein, bitte sprich weiter. Ich finde es wirklich spannend.«
»Weißt du was, Lin«, sagte sie langsam, »ich mag dich.«
Sie sah mich an, und in ihren Augen brannte dieses grüne Feuer. Ich spürte, wie ich errötete; allerdings nicht, weil ich peinlich berührt war, sondern aus Scham, denn sie hatte so leichthin die Worte ausgesprochen, die ich mir selbst verwehrt hatte: Ich mag dich.
»Wirklich?«, fragte ich so beiläufig wie möglich. Ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen.
»Ja. Du kannst gut zuhören. Das ist gefährlich, weil man so schwer widerstehen kann. Dass jemand zuhört – richtig zuhört –, ist das Zweit beste auf der Welt.«
»Und was ist das Beste?«
»Das weiß doch jeder. Das Beste ist Macht.«
»Ach, wirklich?« Ich lachte. »Und was ist mit Sex?«
»Nee. Wenn man vom biologischen Trieb absieht, geht es beim Sex doch nur um Macht. Deshalb ist er so ein Rausch.«
Ich lachte wieder.
»Und was ist mit der Liebe? Viele Leute meinen, die Liebe sei das Beste auf der Welt, nicht Macht.«
»Die irren sich«, erwiderte sie schroff. »Liebe ist das Gegenteil von Macht. Deshalb fürchten wir sie so sehr.«
»Karla, meine Liebe, was redest du nur wieder!«, rief Didier Levy und ließ sich neben Karla nieder. »Ich muss daraus schließen, dass du Übles mit unserem Lin im Sinn hast.«
»Du hast doch gar nichts mitbekommen«, versetzte Karla ungehalten.
»Das ist auch nicht nötig. Ich sehe ja sein Gesicht. Du hast ihm mit deinen Orakeleien den Kopf verdreht. Du darfst nicht vergessen, dass ich dich ziemlich gut kenne, meine Liebe. Aber ich weiß, wie wir dich kurieren, Lin.«
Er rief dem rotlivrierten Kellner mit der Nummer 4 auf der Brusttasche zu: »Hey! Char number! Do battlee beer! Und du, Karla? Was möchtest du? Kaffee? Oh, char number! Ek coffee aur. Jaldi karo!«
Didier Levy war erst fünfunddreißig, doch die Jahre hatten ihn gezeichnet, und Fettpolster und tiefe Falten ließen ihn älter wirken, als er tatsächlich war. Trotz des feuchtwarmen Klimas trug er ständig weite Segeltuchhosen und ein zerknittertes graues Wollsakko über einem Jeanshemd. Seine dichten schwarzen Locken endeten immer auf Kragenhöhe, und die Bartstoppeln in seinem müden Gesicht schienen grundsätzlich mindestens drei Tage alt zu sein. Er sprach Englisch mit starkem Akzent und provozierte gern Freunde wie Feinde mit
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