Shantaram
Schmutz hinterließ, war eine Wissenschaft für sich. Mittlerweile beherrschte ich diese Technik – eines der hundert kleinen Elemente, in denen mein Leben nun dem Leben meiner Nachbarn glich und sich einfügte in ihren von Liebe und Hoffnung bestimmten Kampf mit dem Schicksal.
»Hast du Lust auf einen Chai?«, fragte ich Didier, während ich im Eingang meiner Hütte ein sauberes weißes Hemd überzog. »Wir können zu Kumar gehen.«
»Hab ich gerade getrunken ein prima große Tasse«, warf Prabaker ein, ehe Didier antworten konnte. »Aber schaffe ich noch zu trinken eine Tasse, für Freundschaft, glaube ich das schon sehr sicher.«
Wir spazierten zu dem windschiefen Chai-Shop zurück und ließen uns nieder. Fünf Wohnhütten waren abgerissen worden, um Platz für eine einräumige große Hütte zu schaffen. Die Theke war aus einer alten Frisierkommode gebastelt, das Plastikdach aus tausend Einzelteilen zusammengestückelt, und die Bänke für die Gäste, eine wackelige Angelegenheit, waren unbehauene Bretter, die man über Backsteinhaufen gelegt hatte. Die Inneneinrichtung bestand ausschließlich aus Materialien, die man auf der Baustelle neben dem Slum erbeutet hatte. Kumar, der Besitzer des Chai-Shops, führte einen hartnäckigen Kleinkrieg gegen seine eigenen Gäste, die immer wieder versuchten, seine Backsteine und Bretter für ihre eigenen Hütten mitgehen zu lassen.
Kumar kam persönlich, um unsere Bestellung entgegenzunehmen. Getreu der Grundregel des Slumlebens, dass man umso ärmlicher aussehen musste, je mehr man verdiente, war Kumars äußere Erscheinung ungepflegter und abgerissener als seines ärmsten Gastes. Er bugsierte eine feckige Holzkiste heran, die wir als Tisch benutzen konnten. Nachdem er sie mit zusammengekniffenen Augen misstrauisch beäugt hatte, schwang er kurz einen schmutzigen Lappen darüber und stopfte selbigen dann in sein Unterhemd.
»Didier, du siehst furchtbar aus«, sagte ich, als Kumar verschwand, um unseren Tee zuzubereiten. »Das muss Liebe sein.«
Er grinste mich an, schüttelte seinen dunklen Lockenkopf und hob die Hände.
»Ich bin zugegebenermaßen sehr erschöpft«, sagte er mit ausgesucht selbstmitleidigem Achselzucken. »Niemand versteht, was für ein unglaublicher Kraftakt es ist, einen grundguten Mann zu korrumpieren. Und je ehrlicher der Mann ist, desto kräftezehrender ist die ganze Sache. Ich glaube, niemandem ist wirklich klar, was es mich kostet, einem Mann eine solche Dekadenz einzuflößen, wenn sie ihm nicht im Blut liegt.«
»Und jetzt? Willst du heiliggesprochen werden?«
»Alles zu seiner Zeit«, antwortete er mit nachdenklichem Lächeln. »Aber du, mein Freund, siehst wirklich gut aus. Nur ein wenig, nun ja, wie soll ich sagen, ausgehungert nach Neuigkeiten. Und um diese deine Bedürfnisse zu befriedigen, ist Didier hierhergekommen. Jawohl, mein Bester, ich habe dir die neusten Nachrichten und den allerneusten Klatsch und Tratsch mitgebracht. Du kennst doch den Unterschied zwischen Nachrichten und Tratsch, oder? Durch Nachrichten erfährt man, was die Leute getan haben. Und durch Tratsch erfährt man, wie viel Spaß es ihnen gemacht hat.«
Wir lachten beide, und Prabaker fiel ein, so laut, dass sich alle Gäste im Teeladen nach ihm umdrehten.
»Also, wo fangen wir an?«, fuhr Didier fort. »Ah ja, Vikrams Liebeswerben um Letitia schreitet mit grotesker Unvermeidlichkeit voran. Am Anfang hat sie ihn ja noch verabscheut –«
»Verabscheut ist vielleicht ein bisschen stark«, wandte ich ein.
»Ja, wahrscheinlich hast du recht. Wenn sie mich verabscheut – und das ist ja offensichtlich, diese süße, teure englische Rose –, dann war das Gefühl, das sie für Vikram hegte, doch unwesentlich schwächer. Wollen wir uns darauf einigen, dass sie ihn nicht ausstehen konnte?«
»Ja, das trifft es wohl«, stimmte ich zu.
»Eh bien, am Anfang konnte sie ihn nicht ausstehen, aber durch sein hartnäckiges, hingebungsvolles Liebeswerben ist es ihm gelungen, ein Gefühl in ihr zu wecken, das man nur als freundliche Abneigung bezeichnen kann.«
Wir lachten wieder. Prabaker klopfte sich vor Begeisterung auf die Schenkel und wieherte dermaßen laut, dass sich erneut alle nach ihm umdrehten. Auch Didier und ich blickten ihn verständnislos an. Er reagierte mit einem spitzbübischen Lächeln, doch ich bemerkte, dass seine Augen dabei kurz nach links huschten. Als ich seinem Blick folgte, entdeckte ich den Grund für seine Überdrehtheit: Seine neue Liebe
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