Shantaram
ausgelassene Tänze.
Wie ich so der Kapelle zuhörte, den Kindern zusah und an Tariq dachte, den ich schon zu vermissen begann, fiel mir eine Episode aus dem Gefängnis ein. In jener autonomen kleinen Welt-innerhalb-der-Welt war ich in eine andere Zelle umgezogen und hatte dort eine winzige Maus entdeckt. Das Tierchen kam jeden Abend durch einen beschädigten Lüftungsschlitz zu mir hereingeschlüpft. Im Gefängnis sind Geduld und eine geradezu obsessive Konzentration auf Einzelheiten die Bodenschätze, die wir in der Mine unserer Einsamkeit abbauen. Mit dieser Geduld und winzigen Essenshäppchen bestach ich die Maus über mehrere Wochen hinweg und konnte sie schließlich dazu bewegen, mir aus der Hand zu fressen. Als ich im Rahmen der üblichen Rotation in eine andere Zelle verlegt wurde, erzählte ich dem neuen Insassen – einem Mann, den ich gut zu kennen glaubte – von der dressierten Maus. Am Morgen nach der Verlegung lud er mich zu sich ein, um mir meine Maus zu zeigen. Er hatte das vertrauensselige Tier gefangen und gekreuzigt, mit dem Gesicht nach unten auf einem Kreuz, das er aus einem zerbrochenen Lineal gebastelt hatte. Er lachte, als er mir erzählte, wie die Maus gezappelt hatte, als er sie am Hals mit einem Baumwollfaden an das Kreuz gebunden hatte. Und er äußerte ausführlich sein Erstaunen darüber, wie lange es gedauert hatte, Reißzwecken durch die zuckenden Pfoten zu stechen.
Müssen wir uns irgendwann rechtfertigen für alles, was wir getan haben? Nachdem ich die gefolterte kleine Maus gesehen hatte, raubte diese Frage mir lange Zeit den Schlaf. Wenn wir handeln, selbst mit den besten Absichten, wenn wir uns in den Lauf der Welt einmischen, riskieren wir immer ein neues Unheil, das wir vielleicht nicht selbst verursachen, zu dem es ohne unsere Einmischung jedoch niemals kommen würde. Einige der schlimmsten Missstände, hat Karla einmal gesagt, wurden von Leuten verursacht, die etwas verändern wollten.
Ich betrachtete die Slumkinder, die tanzten wie kleine Bollywood-Stars und umhertollten wie Tempeläffchen. Einigen dieser Kinder brachte ich seit längerem meine Sprache bei, geschriebenes und gesprochenes Englisch. Und bereits mit dem wenigen, was sie in den letzten drei Monaten gelernt hatten, hatten sie sich bei ausländischen Touristen ein Taschengeld verdienen können. Waren diese Kinder kleine Mäuse, die mir aus der Hand fraßen? Würde ihre zutrauliche Unschuld ausgenutzt werden von einem Schicksal, das sie ohne meine Einmischung in ihr Leben niemals erleben würden? Welche Wunden, welche Qualen erwarteten Tariq allein deshalb, weil ich mich mit ihm angefreundet und ihn unterrichtet hatte?
»Hat der Joseph die seine Frau geschlagen«, erklärte Prabaker, als das Paar näher kam. »Und machen sie jetzt eine große Feierlichkeit, die Leute.«
»Wenn sie solch einen Festzug veranstalten, weil ein Mann seine Frau schlägt, was feiern sie dann wohl erst für Partys, wenn einer seine Frau umbringt«, bemerkte Didier mit erstaunt hochgezogenen Augenbrauen.
»Er war betrunken und hat sie furchtbar verprügelt«, rief ich ihm über das Getöse hinweg zu. »Und dann wurde ihm von ihrer Familie und der Slumgemeinschaft eine Strafe auferlegt.«
»Hab ich ihn selbst mit der Stock paar prima gute Vermöbel verpasst«, fügte Prabaker hinzu und strahlte vor freudiger Erregung.
»In den letzten paar Monaten hat er hart gearbeitet, nicht getrunken und für die Gemeinschaft viele nützliche Dinge getan«, fuhr ich fort. »Das war Teil seiner Strafe, und damit hat er den Respekt seiner Nachbarn zurückgewonnen. Seine Frau hat ihm vor ein paar Monaten verziehen. Seither arbeiten und sparen sie gemeinsam. Jetzt haben sie genug zusammen, und heute brechen sie in den Urlaub auf.«
»Na, man feiert auch Schlimmeres«, stellte Didier fest und gestattete sich, kurz mit den Schultern zu wippen und die Hüften im Takt der Trommelschläge und Schlangenflöten zu wiegen. »Ach, übrigens, fast hätte ich es vergessen: Es gibt einen Aberglauben im Zusammenhang mit Hassan Obikwa. Den solltest du kennen.«
»Ich bin nicht abergläubisch, Didier«, rief ich ihm über die lärmende, jaulende Musik hinweg zu.
»Red keinen Blödsinn«, schnaubte er. »Jeder Mensch ist abergläubisch.«
»Das ist von Karla«, versetzte ich.
Er runzelte die Stirn und spitzte die Lippen, während er scharf nachdachte.
»Wirklich?«
»Ja. Das ist ein typischer Karla-Spruch, Didier.«
»Unglaublich«, murmelte er. »Ich dachte,
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