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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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das wäre auf meinem Mist gewachsen. Bist du dir ganz sicher?«
    »Absolut.«
    »Na ja, auch egal. Der Aberglaube um Hassan Obikwa besagt jedenfalls, dass jeder, der ihm beim Kennenlernen seinen Namen sagt, eines Tages Kunde von ihm wird – lebend oder tot. Deshalb darf man ihm bei der ersten Begegnung auf keinen Fall sagen, wie man heißt. Das macht natürlich auch niemand. Du hast das doch auch nicht getan, oder?«
    Die Menge ringsum brach in Jubel aus. Joseph und Maria waren jetzt in unmittelbarer Nähe von uns. Ich sah ihr strahlendes, hoffnungsvolles, tapferes Lächeln und seine zwischen Scham und Entschlossenheit schwankende Miene. Maria sah sehr schön aus mit ihrer Kurzhaarfrisur, die zu dem modernen Schnitt ihres besten Kleides passte. Joseph hatte abgenommen und sah jetzt wesentlich attraktiver, kräftiger und gesünder aus. Er trug ein blaues Hemd und eine neue Hose. Das Paar ging eng aneinander geschmiegt, Schritt um Schritt, alle vier Hände ineinander verschränkt. Mehrere Verwandte folgten ihnen mit einem blauen Tuch, in dem sie Geldscheine und Münzen auffingen, die von den Zuschauern geworfen wurden.
    Prabaker konnte den auffordernden Rufen mitzutanzen nicht widerstehen. Er sprang von der Bank und schob sich in das Gewühl zappelnder kreiselnder Leiber, das die Vorhut für Joseph und Maria bildete. Auf seinen Plateausohlen schwankend und taumelnd, stürzte er sich ins Getümmel, die Arme ausgestreckt, um das Gleichgewicht zu halten. Er sah aus, als würde er einen flachen Fluss auf Trittsteinen überqueren. Sein gelbes Hemd leuchtete, während er herumwirbelte, -tanzte und lachte. Auch Didier wurde von der Lawine der ausgelassen Feiernden erfasst, die sich durch die lange Gasse in Richtung Straße wälzte. Ich sah ihm nach, wie er sich anmutig tänzelnd in die fröhliche Menge mischte und sich mitziehen ließ, bis nur noch seine erhobenen Arme über dem dunklen Lockenschopf zu sehen waren.
    Mädchen warfen händeweise Chrysanthemenblätter, die als weiß leuchtende Schauer auf die anwachsende Menge rieselten. Kurz bevor das Paar an mir vorüberkam, wandte sich Joseph mir zu und sah mir in die Augen. Er runzelte die Stirn, lächelte jedoch zugleich. Seine Augen glänzten dunkel unter der tief gefurchten Stirn, während auf seinen Lippen ein glückliches Lächeln lag. Er nickte mir zweimal zu, dann sah er weg.
    Er konnte es nicht wissen, doch mit diesem Nicken hatte Joseph die Frage beantwortet, die seit meiner Zeit im Gefängnis als schmerzlicher Zweifel an mir genagt hatte. Joseph war erlöst. Das Fieber dieser Erlösung schwelte in seinen Augen, als er mir zunickte. In seiner Miene vereinten sich Scham und Jubel, weil beide für das Erlöstwerden notwendig sind – die Scham gibt dem Jubel ihren Sinn, und der Jubel ist die Belohnung für die Scham. Wir hatten Joseph errettet, indem wir damals seine Scham miterlebten und indem wir nun an seinem Jubel Anteil nahmen. Alles hing von unserer Teilnahme ab, von unserer Einmischung in sein Leben, denn ohne Liebe wird kein Mensch errettet.
    Was ist typischer für die menschliche Spezies, hatte Karla mich einmal gefragt, Grausamkeit oder die Fähigkeit, sie zu bereuen? Damals empfand ich ihre Frage als scharfsinnig und klug, doch heute bin ich einsamer und weiser, und ich weiß, dass weder Grausamkeit noch Reue die typischsten Eigenschaften der Menschen sind. Sondern dass wir uns auszeichnen durch unsere Fähigkeit zu vergeben. Ohne Vergebung hätte unsere Spezies sich längst in Racheakten ausgelöscht. Ohne Vergebung gäbe es keine Geschichte. Ohne diese Hoffnung gäbe es auch keine Kunst, denn jedes Kunstwerk ist in gewisser Weise ein Akt der Vergebung. Ohne diesen Traum gäbe es keine Liebe, denn jede Geste der Liebe ist in gewisser Weise ein Versprechen zu vergeben. Wir leben, weil wir lieben können, und wir lieben, weil wir vergeben können.
    Die Trommler wanderten auf die entfernte Straße zu, gefolgt von den Tänzern, deren Köpfe im wilden freudigen Tanz wie Wiesenblumen im Wind hin und her wogten. Als die Musik nur noch ein Echo in unserem Geist war, kehrte ganz allmählich das tägliche Einerlei, das Leben von Tag zu Tag, von Minute zu Minute, in die Gassen des Slums zurück. Wir befassten uns wieder mit unseren Pflichten, unseren Nöten und unseren harmlosen hoffnungsvollen Plänen. Und für eine kurze Zeit, für eine kleine Weile, war unsere Welt eine bessere Welt, denn die Herzen und das Lächeln, die sie lenkten, waren beinahe so rein und

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