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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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dieses Metallgitter, meine ich. Hast du deshalb geweint?«
    »Wenn du’s unbedingt wissen willst«, sagte sie leise und tonlos, »sie hat mir erzählt, was sie mit ihnen gemacht hat, bevor sie umgebracht wurden. Sie hat mir erzählt, wie sie mit ihnen gespielt hat, bevor sie sterben mussten.«
    Ich biss die Kiefer zusammen und konzentrierte mich auf meinen Atem, der leise durch meine Nasenlöcher strömte, so lange, bis unsere Atemrhythmen sich einander angeglichen hatten.
    »Und du?«, fragte sie schläfrig. »Meine Geschichte haben wir jetzt gehört. Wann erzählst du mir deine?«
    Ich sah zu, wie ihre Augen zufielen in der Stille des Regens. Sie war eingeschlafen. Ich wusste, dass ich ihre Geschichte noch immer nicht vollständig kannte. Ich spürte, dass die Farbtupfer, die sie ausgelassen hatte, mindestens ebenso wichtig waren wie die breiten Striche, die sie mir offenbart hatte. Der Teufel steckt im Detail, sagt man, und die Teufel, die sich in meiner eigenen Geschichte herumtrieben, kannte ich nur zu gut. Dennoch hatte Karla mir einen ganzen Schatz geschenkt. In dieser erschöpften raunenden Stunde hatte ich mehr über sie erfahren als in all den Monaten zuvor. Liebende finden ihren Weg durch solche Einblicke und Vertraulichkeiten: Sie sind die Sterne, die uns durch den Ozean des Verlangens geleiten. Und am hellsten leuchten Herzeleid und Kummer. Die kostbarste Gabe, die man dem geliebten Menschen schenken kann, ist das eigene Leid. Und so nahm ich Karlas Traurigkeiten entgegen und heftete sie an den Himmel.
    Irgendwo dort draußen in der Nacht weinte Jeetendra um seine Frau. Prabaker tupfte Parvati mit seinem roten Tuch den Schweiß vom Gesicht. Wir ruhten auf dem Boden, verflochten in Erschöpfung und Schlaf, umgeben von Krankheit und Hoffnung, Tod und Widerstand, und ich hob Karlas sanfte schlafende Finger an meine Lippen und versprach ihr mein Herz, für immer.

N EUNZEHNTES K APITEL
     

    W ir verloren neun Menschen in der Cholera-Epidemie. Sechs davon waren Kinder. Jeetendras einziger Sohn, Satish, überlebte, doch zwei von Satishs engsten Freunden starben. Sie hatten beide voller Begeisterung an meinem Englischunterricht teilgenommen. Die Kinder, die zusammen mit uns hinter den Bahren hergingen, auf der die kleinen, mit Girlanden geschmückten Leichen fortgetragen wurden, weinten und klagten so erbärmlich, dass manch ein Fremder mitten auf den geschäftigen Straßen stehen blieb, zu Tränen gerührt, und ein Gebet sprach. Parvati überlebte, und Prabaker pflegte sie zwei Wochen lang und übernachtete während dieser Zeit vor ihrer Hütte unter einer kleinen aufgespannten Plastikplane. Sita vertrat ihre Schwester im Chai-Shop ihres Vaters, und jedes Mal, wenn Johnny Cigar vorbeikam, folgte ihr Blick ihm so langsam und verstohlen wie der Schatten eines schleichenden Leoparden.
    Karla blieb sechs Tage, bis das Schlimmste ausgestanden war, und kam in den folgenden Wochen noch mehrmals vorbei. Als die Infektionsrate auf Null gesunken war und auch die Schwerkranken über den Berg waren, nahm ich eine Drei-Eimer-Dusche, zog mir frische Kleider an und machte mich auf den Weg in mein Revier, um nach Touristen Ausschau zu halten, mit denen ich Geschäfte machen konnte. Ich war fast pleite. Die Regenfälle waren sehr stark gewesen, und die Überschwemmungen in vielen Teilen der Stadt hatten die Schlepper, Dealer, Stadtführer, Akrobaten, Zuhälter, Bettler und Schwarzmarkthändler, die sich ihr Brot auf der Straße verdienten, genauso hart getroffen wie die vielen Kaufleute, deren Läden überflutet wurden.
    Der Konkurrenzkampf um die Dollars der Touristen in Colaba verlief freundlich, aber entschieden und erfindungsreich. Jemenitische Straßenhändler priesen Tücher, die mit Passagen aus dem Koran bestickt waren, und Dolche mit aufgeprägten Falken an. Hochgewachsene, schöne Somalier verkauften Armbänder aus gehämmerten Silbermünzen. Künstler aus Orissa präsentierten Bilder vom Taj Mahal, auf getrocknete, gepresste Papayablätter gemalt. Nigerianer handelten mit geschnitzten Stöcken aus Ebenholz, in deren Spiralschaft eine Stilettklinge verborgen war. Iranische Flüchtlinge wogen auf Messing-Waagschalen, die sie an Bäumen aufgehängt hatten, unzenweise polierte Türkise aus. Trommelverkäufer aus Uttar Pradesh, mit sechs oder sieben Trommeln behängt, gaben spontane Kurzdarbietungen, wenn ein Tourist auch nur das geringste Interesse zeigte. Exilanten aus Afghanistan verkauften dicke silberne

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