Shantaram
dass es kein guter Ort ist? Meine Freundin Lisa behauptet immer, wer das Wort Horror erfunden hat, der hat dabei an Bombay gedacht. Jedenfalls passt es genau auf diese Stadt. Wenn du über Indien schreiben willst, solltest du lieber woandershin fahren; nach Rajasthan zum Beispiel. Ich habe gehört, dass es da nicht so horrormäßig sein soll.«
»Sie hat recht, Lin«, fügte Karla hinzu. »Bombay ist nicht Indien. Hier leben zwar Menschen aus allen Teilen Indiens, aber Bombay ist eine eigene Welt, ein Kosmos für sich. Das wahre Indien ist dort draußen.«
»Dort draußen?«
»Dort draußen, wo kein Licht mehr hinfällt.«
»Du hast sicher recht«, antwortete ich und würdigte ihre Worte mit einem Lächeln. »Aber ich fühle mich wohl hier. Ich mag Großstädte, und Bombay ist die drittgrößte Stadt der Welt.«
»Du klingst ja fast wie dein Reiseführer«, witzelte Karla. »Prabaker ist wohl ein zu guter Lehrer.«
»Mag sein. Er bombardiert mich seit zwei Wochen mit Fakten und Zahlen – ziemlich erstaunlich, finde ich, für jemanden, der mit sieben die Schule verlassen und hier auf der Straße Lesen und Schreiben gelernt hat.«
»Was denn für Fakten und Zahlen?«, erkundigte sich Ulla.
»Na ja, zum Beispiel, dass Bombay offiziell elf Millionen Einwohner hat, aber dass die Typen, die das illegale Glücksspiel betreiben, einen besseren Einblick haben und die tatsächliche Einwohnerzahl zwischen dreizehn und fünfzehn Millionen schätzen. Und dass hier zweihundert verschiedene Sprachen und Dialekte gesprochen werden – zweihundert! Das ist doch unglaublich! Als wäre man im Mittelpunkt des Universums!«
Wie um meine Aussage zu bestätigen, sprach Ulla jetzt schnell und nachdrücklich Deutsch mit Karla. Auf ein Zeichen von Modena hin stand sie auf und nahm Handtasche und Zigaretten an sich. Der schweigsame Spanier erhob sich wortlos und ging auf den Ausgang zu.
»Arbeit ruft«, erklärte Ulla mit Schmollmund. »Bis morgen, Karla. Um elf, okay? Wollen wir morgen Abend zusammen essen, falls du auch hier bist, Lin? Fände ich schön. Tschüss. See you.«
Sie folgte Modena nach draußen. Die meisten Männer blickten ihr begierig und bewundernd nach. Didier setzte sich zu Bekannten an einen anderen Tisch, und Karla und ich waren unversehens alleine.
»Das wird sie ohnehin nicht tun.«
»Was?«
»Mit dir zu Abend essen. Sie hat das nur so gesagt. So ist sie eben.«
»Weiß ich«, erwiderte ich grinsend.
»Du magst sie, stimmt’s?«
»Ja. Wieso, findest du das komisch?«
»Irgendwie schon. Sie mag dich auch.«
Karla hielt inne, und ich erwartete, dass sie ihre Bemerkung erklären würde, doch sie wechselte das Thema.
»Sie hat dir Geld gegeben – US-Dollars. Das hat sie mir eben auf Deutsch gesagt, damit Modena sie nicht versteht. Du sollst das Geld mir geben, und sie holt es dann morgen um elf bei mir ab.«
»Okay. Willst du es jetzt gleich?«
»Nein, nicht hier. Ich muss los, ich habe einen Termin. In etwa einer Stunde bin ich wieder da. Kannst du so lange warten? Oder später wiederkommen? Wenn du magst, kannst du mich dann nach Hause bringen.«
»Klar, ich bin da.«
Karla erhob sich, und ich stand auf, um ihren Stuhl zurück zu ziehen. Sie warf mir ein kleines Lächeln zu und zog eine Augenbraue hoch – ob das eine ironische oder eine spöttische Geste war, vermochte ich nicht zu deuten.
»Ich hab das vorhin übrigens ernst gemeint. Du solltest wirklich nicht in Bombay bleiben.«
Ich sah ihr nach, wie sie hinausging und auf die Rückbank eines Privattaxis glitt, das offenbar auf sie gewartet hatte. Während sich das cremefarbene Auto in den trägen abendlichen Verkehrsstrom einfädelte, erschien eine dickliche Männerhand mit einem grünen Rosenkranz im Beifahrerfenster und wedelte die Fußgänger aus dem Weg.
Ich setzte mich wieder, rückte meinen Stuhl an die Wand und ließ das lärmende geschäftige Treiben im Leopold’s auf mich wirken. Leopold’s Beer Bar war das größte Lokal von Colaba und eines der größten der gesamten Stadt. Der rechteckige Raum im Erdgeschoss war so ausladend wie vier gewöhnliche Restaurants. Durch hohe Torbögen aus Holz, die außerhalb der Öffnungszeiten mit stählernen Rolltoren verschlossen waren, hatte man Ausblick auf den Colaba Causeway, die belebteste und farbenfrohste Straße des Viertels. Im ersten Stock gab es eine kleinere klimatisierte Bar, gestützt von denselben massiven Säulen, die den Raum im Erdgeschoss in etwa gleich große Bereiche
Weitere Kostenlose Bücher