Shantaram
unterteilten und um die mehrere Tische gruppiert waren. Eine Hauptattraktion der Bar waren die Spiegelverkleidungen an Säulen und Wandflächen, in denen sich die Gäste gegenseitig betrachten, bewundern und begutachten konnten. Das Leopold’s war ein Ort für Leute, denen das Sehen und Gesehenwerden wichtig war – und die sich überdies selbst gerne dabei zusahen, wie sie von anderen gesehen wurden.
Es gab an die dreißig Tische mit Platten aus perlmuttfarbenem indischem Marmor, an denen jeweils vier oder mehr Stühle aus Zedernholz standen – SechzigMinutenStühle pflegte Karla sie zu nennen, denn sie waren so unbequem, dass man es nicht länger als eine Stunde auf ihnen aushalten konnte. An der Decke surrten riesige Ventilatoren, und die gläsernen weißen Hängelampen aus weißem Glas schwangen langsam und majestätisch im Luftzug. Die getünchten Wände waren ebenso mit Mahagonileisten umrahmt wie Fenster und Türen und die zahllosen Spiegel. An einer Wand türmten sich Früchte in verschwenderischer Fülle – Papayas, Zimtäpfel, Mosambis, Trauben und Wassermelonen, Bananen, Orangen und, je nach Saison, bis zu vier Sorten Mangos, aus denen Desserts und Säfte zubereitet wurden. Eine gewaltige Theke aus massivem Teakholz erhob sich wie die Brücke eines Segelschiffs über dem betriebsamen Deck des Restaurants. Am Ende eines schmalen Korridors dahinter konnte man gelegentlich zwischen einherhastenden Kellnern und feuchten Dampfschwaden einen Blick in die Küche erhaschen, in der hektisches Treiben herrschte.
Wer durch die breiten Eingangsportale in dieses kleine Universum trat, das ganz aus Licht, Farben und edlen Hölzern zu bestehen schien, war sofort bezaubert vom verblassten, aber noch immer üppigen Glanz des Leopold’s. Das eigentliche Prunkstück jedoch konnten nur die niedersten Angestellten des Leopold’s in seiner ganzen Pracht bewundern, denn erst wenn die Bar geschlossen war und morgens die Möbel zum Putzen beiseite gerückt wurden, trat die Schönheit des Bodens zutage. Das kunstvolle Fliesenmuster war dem eines nordindischen Palasts nachempfunden: Von einer Sonne in der Mitte strahlten schwarze, cremefarbene und braune Sechsecke in alle Richtungen ab. Und so offenbarte dieser prunkvolle Bodenbelag, der den Touristen verborgen blieb, weil sie von ihren glitzernden Spiegelbildern gebannt waren, seine Herrlichkeit lediglich im Verborgenen, wurde nur sichtbar für die Putzkräfte mit den bloßen Füßen, die ärmsten und schlichtesten Arbeiter der Stadt.
In der ersten kühlen, kostbaren Morgenstunde, wenn die Böden blitzblank waren und das Leopold’s seine Tore öffnete, bildete es eine Oase der Ruhe in der lärmenden Stadt. Danach herrschte bis Mitternacht, wenn geschlossen wurde, ein unablässiges Kommen und Gehen von Gästen aus aller Herren Länder und zahllosen Stadtbewohnern, Einheimischen wie Ausländern, die aus allen Vierteln herbeiströmten, um hier ihren Geschäften nachzugehen: vom illegalen Handel mit Drogen und Devisen, Pässen, Gold und Sex bis zum Handel mit immateriellen, aber nicht weniger lukrativen Gütern wie Macht und Einfluss. So funktionierte das verdeckte System aus Bestechung und Gefälligkeiten, das Ernennungen, Beförderungen und Vertragsabschlüsse in Indien erleichterte.
Das Leopold’s war ein rechtsfreier Raum, der von den ansonsten höchst effektiven Polizisten der Wache von Colaba auf der anderen Seite der belebten Straße gewissenhaft ignoriert wurde. Allerdings wurden sämtliche Geschäfte nach eigentümlich komplizierten und widersprüchlichen Regeln abgewickelt, die den Umgang mit Oben und Unten sowie Drinnen und Draußen betrafen. Indische Prostituierte, behängt mit Jasmingirlanden, in glitzernde Saris gehüllt, durften sich nicht im Erdgeschoss aufhalten, sondern mussten ihre Kunden in die Bar im ersten Stock begleiten. Europäische Prostituierte wiederum durften nur unten sitzen, um sich an den Nebentischen oder auf der Straße nach Freiern umzusehen. An den Tischen wurde offen über Drogengeschäfte und Schmugglerwaren verhandelt, doch die Waren selbst durften nur außerhalb der Bar ausgetauscht werden. Nicht selten konnte man beobachten, wie Käufer und Verkäufer sich auf einen Preis einigten, nach draußen gingen, um Geld und Ware auszutauschen, und dann zurückkamen, um ihre Plätze wieder einzunehmen. Selbst Bürokraten und Kontakthändler waren an diese ungeschriebenen Gesetze gebunden: Abmachungen, die man in den dunklen Nischen der Bar im
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