Shantaram
»aber ich bin kein Brite. Ich komme aus Neuseeland.«
»Doch! Du bist Brite! Wie alle!«, antwortete er, und sein Zähnefletschen dehnte sich wieder zu einem gehässigen Lächeln. »Du bist Brite, und wir führen das Gefängnis! Da lang!«
Er deutete auf einen gewölbten Gang, der ins Innere führte. Der Gang machte bereits nach wenigen Schritten eine scharfe Biegung nach rechts, und ich wusste instinktiv, dass mich hinter dieser Biegung Übles erwartete. Zur Ermunterung rammten mir die Wachen ihre Knüppel in den Rücken. Ich stolperte los, bog um die Ecke. Dort standen etwa zwanzig Männer auf beiden Seiten des langen Gangs, bewaffnet mit Bambusstöcken.
Das Spießrutenlaufen kannte ich nur zu gut. Ich war schon in einem anderen Land durch einen solchen Tunnel des Schmerzes gegangen: im Straftrakt des australischen Gefängnisses, aus dem ich geflohen war. Die Wärter dort hatten uns durch einen langen, engen Korridor Spießruten laufen lassen, der zu den winzigen Gefängnishöfen führte. Sie hatten ihre Knüppel geschwungen und nach uns getreten, als wir zu der Stahltür am anderen Ende rannten.
Jetzt stand ich im grellen elektrischen Licht dieses neuen Tunnels im Arthur-Road-Gefängnis in Bombay und musste beinahe lachen. Hey, Jungs, hätte ich am liebsten gesagt, geht’s nicht ein bisschen origineller? Aber ich konnte nicht sprechen. In Momenten wie diesem lässt die Angst den Mund trocken werden, und der Hass schnürt einem die Luft ab. Deshalb gibt es auch keine große Literatur des Hasses: Wahre Furcht und wahrer Hass kennen keine Worte.
Ich ging langsam weiter. Die Männer trugen weiße Hemden und Shorts, weiße Mützen und breite schwarze Ledergürtel. Auf den Gürtelschnallen aus Messing waren jeweils eine Nummer und ein Amtstitel zu lesen: Gefangenenaufseher. Wie ich bald herausfand, waren sie keine normalen Gefängniswärter. Im indischen Gefängnissystem, das aus der Kolonialzeit stammte, hatten die Gefängniswärter nur wenig mit dem alltäglichen Gefängnisbetrieb zu tun. Für geregelte Abläufe sowie Ordnung und Disziplin zu sorgen fiel in die Zuständigkeit der Gefangenenaufseher. Verurteilte Mörder und andere Schwerverbrecher erhielten Haftstrafen von fünfzehn Jahren und mehr. Während der ersten fünf Jahre waren sie einfache Gefangene. Fünf Jahre später erhielten sie die Erlaubnis, in der Küche, Wäscherei, Gefängniswerkstatt oder in einem Reinigungstrupp zu arbeiten. Und in den letzten fünf Jahren übernahmen sie nicht selten Mütze, Ledergürtel und Bambusstock des Gefangenenaufsehers und hatten mit einem Mal Macht über Leben und Tod. In diesem Tunnel erwarteten mich nun zwei Reihen solcher verurteilter Mörder, die selbst Wärter geworden waren. Sie hoben ihre Stöcke und ließen mich nicht aus den Augen, damit ich sie nicht um ihre faire Chance brachte, mir Schmerzen zuzufügen, indem ich einfach losrannte.
Ich rannte nicht. Ich wünschte, ich könnte heute behaupten, dass ich an jenem Abend aus einer edlen, tapferen Regung heraus nicht gerannt, sondern normal gegangen war, aber das wäre eine Lüge. Ich habe oft darüber nachgedacht. Unzählige Male habe ich mir meinen Gang durch diesen Tunnel ins Gedächtnis gerufen, habe ihn noch einmal durchlebt, und mit jedem Mal wächst meine Unsicherheit über das Warum. Jede tugendhafte Handlung gründet auf einem dunklen Geheimnis, hatte Khaderbhai einmal zu mir gesagt, und jedes Risiko, das wir eingehen, birgt ein unlösbares Rästel.
Ich ging langsam auf die Männer zu und begann, an den langen steinernen Damm zu denken, der vom Ufer zum Schrein von Haji Ali führt: an die Moschee, die wie ein großes Schiff auf der mondbeschienenen See liegt. Dieser Blick auf das Grabmal des verehrten Heiligen, der Weg zu ihm zwischen den Wellen, war eines der Bilder dieser Stadt, die ich besonders liebte. Seine Schönheit glich für mich jenem Engel, den ein Mann im Gesicht seiner schlafenden Geliebten sieht. Und vielleicht war es genau das, die Schönheit allein, die mich rettete. In dem Moment, als ich vor dem Schrecklichsten in dieser Stadt stand, als ich durch diese Gasse der Grausamkeit gehen musste, erfüllte ich meinen Geist instinktiv mit der Schönheit, die ich in Bombay wahrgenommen hatte: Ich sah jenen Weg durch das Meer zu den weißen Minaretten des Heiligengrabs vor meinem inneren Auge.
Die Bambusstöcke sausten klatschend nieder und rissen mir Arme, Beine und Rücken auf. Einige Hiebe trafen meinen Kopf, meinen Hals, mein Gesicht.
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