Shantaram
Portionen verteilten. Jeden Tag erlebte ich, wie sie voller Angst, dass sie nichts mehr abbekommen könnten, auf die anderen starrten. Aus ihren Augen sprach eine Wahrheit, die wir Menschen erst dann über uns selbst erfahren, wenn wir grausamen und verzweifelten Hunger leiden. Ich habe dieser Wahrheit mein Herz geöffnet, und was damals in mir zerbrach, ist bis heute nicht geheilt.
Und jeden Abend aßen die fünfzehn Prinzen in Zelle eins, dem Taj Mahal, eine warme Mahlzeit und tranken, bevor sie sich zum Schlafen ausstreckten, heißen, süßen Tee, der auf den Behelfskochern im Ermittlungsraum aufgewärmt worden war.
Doch auch die Prinzen mussten natürlich die Toilette benutzen. Diese Prozedur war für sie genauso widerwärtig und entmenschlichend wie für den Ärmsten unter den Gefangenen; wenigstens in diesem Punkt waren wir fast alle gleich. Die lange Reise durch den Dschungel von Leibern und Gliedern im Gang endete für jeden von uns im stinkenden Sumpf. Dort stopften sich die reichen Männer, wie wir anderen auch, von einem Hemd oder Unterhemd abgerissene Stoffstreifen in die Nase und klemmten sich eine brennende Beedie zwischen die Zähne, um sich gegen den Gestank zu wappnen. Die Hose bis über die Knie hochgezogen, die Sandalen in der Hand, wateten sie barfuß durch den Morast zu der Hocktoilette. Sie war nicht verstopft und funktionierte ganz gut, doch da sie jeden Tag von über zweihundert Männern ein- oder sogar zweimal benutzt wurde und nicht alle die schlüssellochförmige Öffnung im Boden trafen, war sie schnell verdreckt. Irgendwann rutschten die Kothaufen dann in die Urinlachen, die aus dem flachen Urinal geschwappt waren. So entstand die ekelhafte Brühe, durch die wir zur Toilette wateten. Von der Hocktoilette stelzten die Reichen dann zum Urinal, wo sie sich an dem Wasserhahn ohne Seife Hände und Füße wuschen. Dann machten sie sich auf den Weg zum Ermittlungsraum. Sie gingen über Lumpenbündel, die als Trittsteine fungierten und vor dem Eingang zum Ermittlungsraum außerdem einen behelfsmäßigen Damm bildeten. Dort reinigten in der Jauche hockende Männer gegen einen Zigarettenstummel oder ein halb gerauchtes Beedie ihre Füße mit Lumpen noch einmal nach, woraufhin die Prinzen endlich ihren mühseligen Rückweg durch den Gang antreten konnten.
Weil sie annahmen, dass ich Geld hatte – schließlich war ich ein weißer Ausländer –, hatten mich die Reichen eingeladen, bei ihnen zu bleiben, als ich am ersten Morgen in ihrer Zelle erwacht war. Der Gedanke widerstrebte mir zutiefst. Ich war in einer Familie von Sozialisten aufgewachsen, Mitgliedern der Fabier-Gesellschaft, und hatte ihren hartnäckigen, unbequemen Widerwillen gegen soziale Ungerechtigkeit in jeglicher Form geerbt. Und was sie mir vorgelebt hatten, erlebte ich als junger Mann in der ganzen Gesellschaft, sodass ich selbst zum Revolutionär wurde. In meinem tiefsten Innern saß immer noch ein Rest jener Hingabe an die Sache, wie meine Mutter immer gesagt hatte. Außerdem hatte ich viele Monate lang mit den Armen der Stadt in einem Slum gelebt. Und so lehnte ich – zugegebenermaßen jedoch ungern – das großzügige Angebot ab, den Komfort der Reichen mitzugenießen. Stattdessen bahnte ich mir einen Weg in den zweiten Raum, den mit den schweren Jungs, die bereits gesessen hatten. Am Eingang gab es ein kurzes Handgemenge, doch sobald deutlich geworden war, dass ich mir meinen Platz in der Wohnung der Diebe notfalls auch erkämpfen würde, rückten sie zusammen und machten mir Platz. Allerdings nicht ohne einen gewissen Groll. Wie alle Ganoven, die etwas auf sich halten, waren auch die Schwarzen Hüte stolze Männer. Und erwartungsgemäß dauerte es nicht lange, bis sie einen Grund fanden, mich auf die Probe zu stellen.
Als ich mich drei Tage nach meiner Verhaftung auf dem langen Rückweg von der Toilette durch das Gewühl schlängelte, versuchte mir ein Mann aus der Menge meinen Teller zu entreißen. Ich stieß einen warnenden Ruf aus, sowohl auf Hindi als auch auf Marathi und versuchte meinen Drohungen körperlich Nachdruck zu verleihen, was den Mann jedoch nicht aufhielt. Er war größer als ich und sicher dreißig Kilo schwerer. Er hielt den Teller wie ich mit beiden Händen umklammert, und wir zogen beide daran, aber keiner war stark genug, ihn dem anderen zu entreißen. Die Männer ringsum verstummten. Das Geräusch und die warme Luft ihres Atems umwaberten uns. Es war eine Machtprobe. Hopp oder topp: Entweder
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