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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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auf die Schulter, wobei er etwas von seinem Whisky verschüttete.
    »Ha! Weißt du was, Lin, ich finde, du bist in Ordnung. Wobei mir bewusst ist, dass ein Kompliment aus meinem Munde nicht grade für den besten Leumund sorgt.«
    Er leerte sein Glas, knallte es auf den Tisch und wischte sich mit dem Handrücken über den gestutzten Schnurrbart. Als er meinen verwirrten Gesichtsausdruck sah, beugte er sich so nah zu mir herüber, dass unsere Gesichter sich fast berührten.
    »Ich muss dir was erklären. Also: Sieh dich einmal um. Wie viele Leute siehst du hier?«
    »Na ja, vielleicht sechzig, achtzig.«
    »Achtzig kommt hin. Griechen, Deutsche, Italiener, Franzosen, Amerikaner. Touristen aus aller Welt. Beim Essen, Trinken, Reden, Lachen. Und Leute aus Bombay – Inder, Iraner, Afghanen, Araber, Afrikaner. Aber wie viele von diesen Leuten haben tatsächlich Einfluss, für wie viele von ihnen hat das Schicksal eine wirkliche Bestimmung vorgesehen? Wie viele haben den unbedingten Willen, la dynamique, etwas verändern zu wollen in ihrem Umfeld, in ihrer Zeit oder vielleicht sogar im Leben von Tausenden von Menschen? Ich kann es dir ganz genau sagen: vier. Hier in diesem Raum gibt es vier Leute, die Einfluss haben, der ganze Rest ist wie überall auf der Welt: machtlos, antriebslos, anonyme. Wenn Karla zurückkommt, sind sie zu fünft, die Einflussreichen. Ja, ich spreche von der Karla, die du als interessant bezeichnest. Ich sehe an deinem Gesichtsausdruck, junger Freund, dass du nicht verstehst, was ich meine. Lass es mich also anders sagen: Karla kann eine gute Freundin sein, wenn sie will, aber eine noch bessere Feindin. Wenn du abschätzen willst, wie einflussreich jemand ist, musst du dir ansehen, was er als Freund zu tun vermag und was als Feind. Und das eine kann ich dir sagen: Es gibt in der ganzen Stadt niemanden, der ein schlimmerer oder gefährlicherer Feind wäre als Karla.«
    Er sah mich forschend an, ließ den Blick zwischen meinen Augen hin- und herwandern.
    »Du weißt, von welcher Sorte Einfluss ich rede, oder? Von wahrem Einfluss. Von der Macht, Menschen wie Sterne erstrahlen zu lassen oder sie zu Staub zu zermahlen. Die Macht, Geheimnisse zu kennen – schreckliche, schreckliche Geheimnisse. Ich spreche von der Macht, weder Reue noch Bedauern zu kennen. Gibt es irgendetwas in deinem Leben, das du bereust, Lin? Hast du irgendwas getan, was du heute bereust?«
    »Ja, ich glaube, ich …«
    »Aber natürlich hast du das! Ich doch auch – ich bereue … so manches. Dinge, die ich getan habe … und Dinge, die ich nicht getan habe. Nicht so Karla. Diese Eigenschaft macht sie zu einer der wenigen hier, die wahre Macht und echten Einfluss besitzen. Sie hat das Herz der Mächtigen – im Gegensatz zu uns beiden hier. Ah, verzeih mir, ich bin einigermaßen betrunken, und meine beiden Italiener brechen gerade auf. Ajay wird nicht mehr lange warten. Ich muss los und meine kleine Provision kassieren, damit ich mich danach in Ruhe restlos betrinken kann.«
    Er rutschte auf seinem Stuhl nach hinten und stieß sich mit den weichen weißen Händen von der Tischplatte ab, um auf die Füße zu kommen. Ohne mich eines weiteren Wortes oder Blickes zu würdigen, bewegte er sich mit dem leicht unsteten Gang des geübten Trinkers zwischen den Tischen hindurch Richtung Küche. Sein Sakko war am Rücken zerknittert und sein Hosenboden ausgebeult. Als ich Didier noch nicht näher kannte und nicht einschätzen konnte, was es für eine Leistung war, acht Jahre lang in Bombay von Verbrechen und Leidenschaft zu leben und dabei weder Feinde noch Schulden zu machen, neigte ich dazu, ihn als amüsanten, aber hoffnungslosen Trinker abzutun. Es lag nahe, diesen Fehler zu machen, und Didier selbst bestärkte einen darin.
    Die wichtigste und weltweit gültige Regel für den Schwarzhandel lautet: Lass niemanden wissen, was du denkst. Didiers Zusatz zu dieser Regel lautete: Und sei immer darüber im Bilde, was die anderen über dich denken. Seine schäbigen Kleider, die verfilzten, vom Liegen plattgedrückten Locken, seine anscheinend unkontrollierbare Alkoholsucht – das alles waren Teile der Rolle, die er kultivierte und so überzeugend spielte wie ein Schauspieler. Er wiegte die Leute in dem Glauben, dass er hilflos und harmlos sei – während genau das Gegenteil zutraf.
    Ich hatte nicht lange Zeit, um über Didier und seine rätselhaften Bemerkungen nachzusinnen, denn kurz nachdem er gegangen war, kam Karla zurück, und wir brachen

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