Shantaram
ist meine Arbeit für heute Abend getan. Ich bin ein freier Mann!«
Er klopfte auf die Tischplatte, um einen weiteren Drink zu bestellen, doch als die kleine Flasche gebracht wurde, hielt er sie erst einmal in beiden Händen und betrachtete sie mit grüblerischer Miene.
»Wie lange bleibst du in Bombay?«, fragte er, ohne mich anzusehen.
»Ich weiß noch nicht. Komisch, seit ein paar Tagen fragen mich das alle.«
»Du bist eben schon länger hier als die üblichen Touristen. Die meisten Leute können gar nicht schnell genug wieder aus der Stadt rauskommen.«
»Es gibt da diesen Stadtführer, Prabaker heißt er, kennst du ihn?«
»Prabaker Kharre? Der Typ, der dauernd grinst?«
»Genau der. Ich war die ganzen letzten Wochen mit ihm unterwegs. Ich hab sämtliche Tempel und Museen und Kunstgalerien zu sehen bekommen und viele Basare. Ab morgen will er mir die andere Seite der Stadt zeigen – die echte Stadt, hat er gesagt. Das klingt interessant, und ich will es auf jeden Fall noch mitmachen. Danach kann ich immer noch überlegen, wo ich als Nächstes hingehe. Ich hab’s nicht eilig.«
»Ziemlich traurige Angelegenheit, es nicht eilig zu haben – das würde ich an deiner Stelle nicht so offen zugeben«, erwiderte Didier, den Blick noch immer auf die Flasche geheftet. Wenn er nicht lächelte, wirkte sein fahles Gesicht schlaff und schwammig. Er sah ungesund aus, aber auf eine Art, für die man einiges tun muss. »In Marseille gibt es ein Sprichwort: Wer es nicht eilig hat, bringt es schnell zu nichts. Ich hab es seit acht Jahren nicht eilig.«
Plötzlich schlug seine Stimmung um. Er goss sich einen Schluck Whisky ein, sah mich lächelnd an und hob sein Glas.
»Trinken wir! Trinken wir auf Bombay, einen guten Ort, um es nicht eilig zu haben. Und auf zivilisierte Polizisten, die sich bestechen lassen – wenigstens im Interesse der Ordnung, wenn ihnen das Gesetz schon einerlei ist. Also: auf das Bakschisch!«
»Darauf trinke ich gern«, sagte ich und stieß schwungvoll mit ihm an. »Und was hält dich in Bombay, Didier?«
»Ich bin Franzose«, antwortete er und betrachtete eingehend sein beschlagenes Glas, »ich bin schwul, jüdisch und kriminell – ungefähr in dieser Reihenfolge. Bombay ist der einzige Ort, wo ich das alles zugleich sein darf.«
Wir lachten und tranken, und Didier ließ den Blick unruhig durch den Raum schweifen, bis er schließlich bei einer Gruppe Inder zur Ruhe kam, die neben einem der Torbögen saßen. Er beobachtete sie eine Weile und nippte weiter an seinem Whisky.
»Tja, falls du dich entscheiden solltest, hierzubleiben, hast du dir jedenfalls eine gute Zeit ausgesucht. Hier verändert sich zurzeit vieles, und zwar ganz nachhaltig. Siehst du diese Männer dort drüben, die so gierig essen? Das sind Sainiks, Aktivisten der Shiv Sena. Um nicht zu sagen, Agitatoren – und das ist noch freundlich formuliert. Hat dir dein Führer von der Sena erzählt?«
»Ich glaube nicht.«
»Das hat er bewusst ausgelassen, würde ich sagen. Die Shiv-Sena-Partei ist die Partei der Zukunft in Bombay. Und vielleicht sind ihr Stil und ihre politique überall der Weg für die Zukunft.«
»Was für eine Politik machen die?«
»Regionalpolitik eben. Sprachgebunden, ethnisch, ›wir-gegen-die‹«, antwortete Didier mit zynischem Grinsen, während er die einzelnen Punkte an den Fingern seiner rechten Hand abzählte. Seine Hände waren weiß und fleischig, und er hatte schwarze Schmutzränder unter den langen Fingernägeln. »Eine Politik der Angst. Ich hasse Politik, und Politiker kann ich noch viel weniger leiden. Sie erheben die Habgier zur Religion. Das ist unverzeihlich. Unsere persönliche Beziehung zu Gier ist doch Privatsache, findest du nicht? Die Shiv Sena hat die Polizei in der Hand, weil sie eine Marathen-Partei ist und die niederen Dienstgrade der Polizei fast alle Marathen sind. Außerdem hat sie die Kontrolle über viele der Slums, viele Gewerkschaften und einen Teil der Presse. Im Prinzip haben die Shiv-Sena-Bonzen alles außer dem nötigen Geld. Sie werden zwar von den Zuckerbaronen und zum Teil auch vom Handel unterstützt, aber auf dem großen Geld – Großkapital und Schwarzgeld – sitzen die Parsen, Hindus aus anderen indischen Städten und die – übrigens von allen gehassten – Moslems. Und da haben wir auch die Wahrheit hinter diesem ganzen Gerede um Rasse und Sprache und Religion: la guerre économique. Die Shiv Sena verändert die Stadt, langsam, aber unaufhaltsam. Die
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