Shantaram
sie und drehte sich mit einer abrupten Bewegung zu mir um.
Selbst im Licht der Straßenlaterne konnte ich erkennen, dass ihr das Blut ins Gesicht gestiegen war und sie fast zornig aussah. Damals wusste ich noch nicht, dass die perfekte Beherrschung der englischen Sprache für Karla enorm wichtig war; dass sie viel las und schrieb, um sich all ihre klugen Bemerkungen zu erarbeiten.
»Du drückst dich einfach sehr ungewöhnlich aus. Versteh mich nicht falsch, mir gefällt das. Sehr sogar. Es ist wie … na ja, nimm zum Beispiel gestern. Als wir uns über die Wahrheit unterhalten haben. Die Wahrheit. Die absolute Wahrheit. Die Wahrheit schlechthin. Als wir darüber nachgedacht haben, ob es überhaupt so etwas Absolutes gibt, ob überhaupt irgend etwas wahr ist. Alle haben sich dazu geäußert – Didier, Ulla, Maurizio, sogar Modena. Und dann hast du gesagt: Die Wahrheit ist ein Tyrann, und wir alle geben vor, ihn zu lieben. Das hat mich wirklich beeindruckt. Hast du das irgendwo gelesen oder in einem Theaterstück oder Film gehört?«
»Nein. Das stammt von mir.«
»Siehst du, das meine ich. Ich glaube nicht, dass ich von den Äußerungen der anderen irgendwas zitieren könnte. Aber diesen Satz von dir werde ich nie vergessen.«
»Findest du denn, dass es zutrifft?«
»Was – dass die Wahrheit ein Tyrann ist und dass wir alle nur so tun, als würden wir ihn lieben?«
»Ja.«
»Nein, überhaupt nicht. Aber mir gefällt der Gedanke und die Formulierung.«
Ein kleines Lächeln lag auf ihren Lippen, und ich konnte den Blick nicht von ihr lösen. Einige Momente verstrichen, und als sie wegschaute, sprach ich rasch weiter, um ihre Aufmerksamkeit nicht zu verlieren.
»Warum magst du Biarritz?«
»Wie?«
»Vor zwei Tagen hast du gesagt, Biarritz sei einer deiner Lieblingsorte. Ich war noch nie dort und habe keine Vorstellung davon. Aber ich würde gerne wissen, warum es dir dort so gut gefällt .«
Sie lächelte und zog die Nase kraus, was ein Ausdruck von Ärger oder auch von Freude sein mochte.
»Das weißt du noch? Na, dann sollte ich es dir wohl erklären. Biarritz ist … wie soll man das in Worte fassen … ich glaube, es hat mit dem Meer zu tun. Der Atlantik. Ich finde Biarritz im Winter am schönsten, wenn die Touristen weg sind und das Meer so beängstigend ist, dass die Leute zu Stein erstarren. Man sieht sie wie Statuen an den verlassenen Stränden stehen, zwischen den Klippen, und aufs Meer starren, versteinert vor Angst beim Anblick des Ozeans. Der Atlantik ist nicht wie der warme Pazifik oder der Indische Ozean. Im Winter ist er unerbittlich, gnadenlos und grausam. Du spürst, wie er dich ruft, und du weißt, dass er dich hinauslocken und in die Tiefe ziehen will. Er ist so wunderschön, dass mir die Tränen kamen, als ich ihn zum ersten Mal richtig wahrgenommen habe. Und es zog mich zu ihm. Ich wollte mich dort hinaustragen und von den gewaltigen zornigen Wellen verschlingen lassen. Es war absolut unheimlich. Aber die Einwohner von Biarritz sind die tolerantesten und entspanntesten Menschen in ganz Europa, finde ich. Nichts bringt sie aus der Fassung. Sie nehmen alles gelassen hin. Ziemlich sonderbar – in den meisten Ferienorten sind die Leute aufgeregt und das Meer ist ruhig. In Biarritz ist es genau umgekehrt.«
»Willst du irgendwann dorthin zurück? Um dort zu leben, meine ich?«
»Nein«, antwortete sie rasch. »Wenn ich Indien jemals verlasse, dann gehe ich in die USA zurück. Da bin ich nach dem Tod meiner Eltern aufgewachsen, und irgendwann würde ich gern wieder dort leben. Ich liebe das Land schon irgendwie. Amerika und die Amerikaner strahlen so etwas Zuversichtliches, Herzliches und … Tapferes aus. Ich fühle mich nicht als Amerikanerin – jedenfalls nicht bewusst –, aber ich fühle mich in ihrer Gesellschaft wohl, verstehst du? Mehr als irgendwo anders.«
»Erzähl mir von den anderen«, bat ich, damit sie weitersprach.
»Den anderen?« Sie runzelte die Stirn.
»Von der Truppe aus dem Leopold’s. Didier und den anderen. Von Letitia zum Beispiel. Woher kennst du sie?«
Sie entspannte sich, und ihr Blick schweifte ins Dunkel auf der anderen Straßenseite. Dann blickte sie gedankenverloren zum Nachthimmel auf. Das weißblaue Licht der Straßenlaterne zerfloss auf ihren Lippen und in den Planeten ihrer großen Augen.
»Lettie hat eine Weile in Goa gelebt«, begann sie, und ihre Stimme klang warm und herzlich. »Sie ist wegen der üblichen Geschichten nach Indien gekommen
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