Shantaram
die ich fühlte, aber nicht verstand. Als ich ging, starrte er auf die endlose Wellenbewegung des Meers und die Gischt, die der Wind aufwühlte.
Ich ging durch den Slum zurück zu der kleinen Praxis. Ayub und Siddhartha, die ich so weit angelernt hatte, dass sie die Praxis auch ohne mich führen konnten, bestätigten mir, dass alles gut lief. Ich gab ihnen etwas Geld als Notreserve und steckte auch Prabaker Geld für seine Hochzeitsvorbereitungen zu. Dann stattete ich Qasim Ali Hussein einen Höflichkeitsbesuch ab und ließ mir, den Regeln der Gastfreundschaft folgend, einen Chai aufdrängen. Jeetendra und Anand Rao, zwei meiner ehemaligen Nachbarn, gesellten sich mit einigen anderen guten Bekannten zu uns. Qasim Ali lenkte die Unterhaltung: Zuerst erzählte er von seinem Sohn Sadiq, der am Persischen Golf arbeitete, dann kamen wir auf die religiösen und kommunalen Konflikte in der Stadt zu sprechen und auf den Bau des World Trade Center, der sich noch mindestens zwei Jahre hinziehen würde, und schließlich auf die Hochzeiten von Prabaker und Johnny Cigar.
Es war ein heiteres, anregendes Treffen, und als ich mich verabschiedete, war ich von der Kraft und Zuversicht erfüllt, die diese einfachen, anständigen Männer mir immer wieder einflößten. Ich war erst ein paar Schritte gegangen, als mich Anand Rao, der junge Sikh, einholte und neben mir herging.
»Linbaba, es gibt ein Problem«, sagte er leise. Er war von Natur aus ein ernster Mann, doch jetzt war seine Miene geradezu grimmig. »Dieser Rashid, mit dem ich früher zusammengewohnt habe – erinnerst du dich an ihn?«
»Rashid – ja sicher«, antwortete ich und sah das schmale, bärtige Gesicht und den unruhigen, schuldbewussten Blick des Mannes unwillkürlich vor mir, der über ein Jahr mit Anand mein Nachbar gewesen war.
»Er macht schlimme Sachen«, sagte Anand Rao unverblümt. »Seine Frau und ihre Schwester sind aus ihrem Heimatort gekommen. Ich bin aus der Hütte ausgezogen, als sie gekommen sind, und jetzt wohnt er da schon eine ganze Weile mit ihnen zusammen.«
»Ja … und?«, fragte ich, während wir auf die Straße zugingen. Ich hatte keine Ahnung, worauf Anand Rao hinauswollte, und ebenso wenig Lust, mich auf diese nebulösen Anschuldigungen einzulassen, die ich während meiner Zeit im Slum fast jeden Tag zu hören bekommen hatte. Meist erwiesen sie sich nämlich als grundlos, und deshalb war es immer das Beste, gar nicht darauf einzugehen.
»Na ja …« Anand Rao zögerte. Er schien meinen Unwillen zu spüren. »Es ist nur … er ist … na ja, da läuft was sehr Schlimmes … und ich bin … es muss …«
Er verstummte und starrte auf seine Sandalen. Ich legte ihm die Hand auf die knochige, breite Schulter. Er hob langsam den Blick, und in seinen Augen lag eine stumme Bitte.
»Geht es um Geld?«,fragte ich und griff in die Tasche.»Brauchst du Geld?«
Er zuckte zurück, als hätte ich ihn verflucht. Einen Moment sah er mir fest in die Augen, dann drehte er sich wortlos um und kehrte in den Slum zurück.
Ich setzte meinen Weg durch die vertrauten Straßen fort und versuchte mir einzureden, dass schon alles irgendwie in Ordnung sei. Schließlich hatten Anand Rao und Rashid über zwei Jahre zusammengewohnt, und wenn sie jetzt zerstritten waren, weil Anand wegen Rashids Frau und deren Schwester aus der Hütte hatte ausziehen müssen, war das vermutlich nur normal. Außerdem ging mich das alles ohnehin nichts an. Lachend und kopfschüttelnd schritt ich aus und überlegte, warum Anand wohl so heftig reagiert hatte, als ich ihm Geld angeboten hatte. So abwegig waren der Gedanke und das Angebot eigentlich nicht gewesen, fand ich. Im Laufe meines halbstündigen Fußmarsches vom Slum zum Leopold’s schenkte ich fünf Leuten Geld, unter anderem den beiden Sternzeichen-Georges. Er wird schon darüber hinwegkommen, sagte ich mir , was auch immer da los ist. Außerdem habe ich nichts damit zu tun. Doch die Lügen, die wir uns selbst auftischen, sind Geister, die uns in den leeren Nachtstunden heimsuchen. Und obwohl ich den Gedanken an Anand und den Slum verdrängte, spürte ich den Hauch dieser geisterhaften Lüge auf meinem Gesicht, als ich an jenem heißen Nachmittag den langen, belebten Causeway entlangging.
Ich betrat das Leopold’s, und noch ehe ich ein Wort sagen oder mich setzen konnte, packte Didier mich am Arm, machte mit mir kehrt und führte mich geradewegs zu einem draußen wartenden Taxi.
»Ich habe dich überall gesucht«,
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