Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
Vom Netzwerk:
auch immer ein gut prima Einsamkeit hast. Suchst du ihn da.«
    Ich machte mich auf den Weg, und als ich nochmal einen kurzen Blick über die Schulter warf, sah ich, wie Prabaker seine schmalen Hüften mit mechanischen Stößen kreisen ließ und die Band unermüdlich anheizte. Am Rand des Slums, wo eine wilde schwarze Felsformation das Meer säumte, fand ich Johnny Cigar. Er trug ein weißes Unterhemd und einen grün karierten Lungi. Die Arme um den Oberkörper geschlungen, saß er an einen Felsen gelehnt, fast an der gleichen Stelle wie vor ein paar Monaten, am Abend des Choleraausbruchs, als er mir von Meerwasser, Schweiß und Tränen erzählt hatte. Er blickte übers Meer.
    »Glückwunsch«, sagte ich, setzte mich neben ihn und bot ihm ein Beedie an.
    »Danke, Lin«, antwortete er lächelnd und wiegte den Kopf. Ich steckte das Päckchen wieder ein, und eine Weile betrachteten wir schweigend die störrischen kleinen Wellen, die unermüdlich auf die Felsen brandeten.
    »Weißt du, Lin, da drüben im Navy Nagar«, sagte Johnny schließlich und wies mit dem Kopf auf das Gelände der indischen Marine, »da hat mein Leben angefangen. Also, da bin ich gezeugt worden, meine ich.« Zwischen uns und dem Nagar lag ein Stück sichelförmige Küste, doch von unserem Sitzplatz aus konnten wir die Häuser, Hütten und Kasernen auf der anderen Seite der kleinen Bucht deutlich erkennen.
    »Meine Mutter kommt ursprünglich aus Delhi. In ihrer Familie waren alle Christen. Sie standen im Dienst der Briten und haben gutes Geld verdient, aber nach der Unabhängigkeit haben sie ihre Stellung und ihre Privilegien verloren. Als meine Mutter fünfzehn war, ist die Familie nach Bombay gezogen. Ihr Vater hat Arbeit bei der Marine gefunden, als Büroangestellter. Sie haben in einem Zhopadpatti nicht weit von hier gewohnt, und meine Mutter hat sich in einen Matrosen verliebt, einen großen jungen Kerl aus Amritsar mit dem schönsten Schnurrbart im ganzen Nagar. Als herauskam, dass sie mit mir schwanger war, hat meine Familie sie rausgeschmissen. Sie hat versucht, von dem Matrosen, der mein Vater war, Unterstützung zu bekommen, aber der hatte den Nagar schon verlassen. Sie hat ihn nie wieder gesehen oder von ihm gehört.«
    Er hielt inne, presste die Lippen zusammen und blinzelte, um die Augen gegen die grelle Spiegelung des Lichts auf dem Wasser und die heftige Brise zu schützen. Hinter uns hörten wir die Geräusche des Slums – die Rufe der fliegenden Händler, das Klatschen nasser Kleider auf Stein im Waschbereich, spielende Kinder, eine keifende Klage und die scheppernde Musik für Prabakers Hüftgekreise.
    »Sie hat es schwer gehabt, Lin. Sie war hochschwanger, als sie zu Hause rausgeschmissen wurde. Sie hat sich einer Gemeinschaft von Gehwegbewohnern angeschlossen, in der Nähe vom Crawford Market, und den weißen Sari der Witwen getragen – sie hat so getan, als wäre sie mal verheiratet gewesen und als wäre ihr Mann gestorben. Sie musste das tun, musste für immer zur Witwe werden, bevor sie überhaupt heiraten konnte. Deshalb habe ich nie geheiratet. Ich bin achtunddreißig Jahre alt. Ich kann sehr gut lesen und schreiben – meine Mutter hat dafür gesorgt, dass ich eine gute Ausbildung bekomme –, und ich mache die Buchhaltung für alle Läden und Geschäfte im Slum. Wer Steuern zahlt, lässt seine Steuererklärung von mir machen. Ich hätte schon vor fünfzehn oder zwanzig Jahren heiraten sollen. Aber meine Mutter ist doch ihr Leben lang Witwe gewesen, nur für mich. Ich habe es nicht übers Herz gebracht zu heiraten, ich konnte einfach nicht. Ich habe immer gehofft, dass ich ihn irgendwann mal zu sehen bekommen würde, diesen Matrosen mit dem schönsten Schnurrbart. Meine Mutter hatte ein einziges verblasstes Foto von ihnen beiden, auf dem sie sehr ernst und streng in die Kamera schauen. Deshalb lebe ich hier in dieser Gegend: Ich habe immer gehofft, dass ich ihn mal sehen würde. Und letzte Woche ist sie gestorben, Lin. Meine Mutter ist letzte Woche gestorben.«
    Er wandte sich mir zu, und das Weiß seiner Augäpfel war rot von den Tränen, die zu weinen er sich nicht erlaubte.
    »Sie ist letzte Woche gestorben. Und jetzt heirate ich.«
    »Das mit deiner Mutter tut mir leid, Johnny. Aber sie hätte bestimmt gewollt, dass du heiratest. Ich glaube, dass du mal ein guter Vater wirst. Nein, ich weiß, dass du ein guter Vater wirst. Ich bin mir absolut sicher.«
    Er sah mich an, und seine Augen sprachen in einer Sprache zu mir,

Weitere Kostenlose Bücher