Shantaram
wenn du mich kitzelst, Vikram, wirst du es büßen!«
Am Rand des Zugdachs tauchten ein paar Männer auf, die auf dem Waggon gelegen hatten. Sie beugten sich vor, packten Lettie an den ausgestreckten Armen und hoben sie, schmal wie sie war, mühelos zu sich aufs Dach. Lettie kreischte, doch die gellende Trillerpfeife des Schaffners übertönte ihr Geschrei. Der Zug setzte sich in Bewegung.
»Los!« schrie Vikram und kletterte außen am Waggon hoch.
Ich schaute kurz zu Didier hinüber.
»Oh nein, mein Freund«, rief der. »Das ist nichts für mich. Aber du musst! Los! Beeil dich!«
Ich rannte neben dem Zug her, sprang auf einen Waggon auf und kletterte über die Außenseite ebenfalls aufs Dach hoch. Dort saßen bereits ein Dutzend oder mehr Männer beisammen. Einige von ihnen waren Musiker, die ihre Tablas, Becken, Flöten und Tamburine auf dem Schoß hielten. Weiter hinten auf dem staubigen Dach hockte eine zweite Gruppe. Lettie saß zwischen ihnen, immer noch mit verbundenen Augen. Vier Männer hielten sie fest, damit ihr nichts zustieß – je einer an den Armen und zwei von hinten. Vikram kniete vor ihr. Als ich zu ihnen kroch, hörte ich, wie er sie zu beschwichtigen versuchte.
»Ich verspreche es dir, Lettie. Es ist wirklich eine große Überraschung.«
»Oh ja, wirklich eine super Überraschung!«, schrie sie. »Aber gar nichts gegen die Überraschung, die du erlebst, wenn wir hier wieder runterkommen, Vikram Patel!«
»Hallo, Lettie!«, rief ich ihr zu. »Fantastische Aussicht, oder? Ach so, tut mir leid. Du hast ja die Augen verbunden. Na ja, nachher, wenn du gucken darfst, wirst du sie ja auch sehen, die fantastische Aussicht.«
»Das ist doch der pure Wahnsinn, Lin!«, schrie sie. »Sag diesen Idioten, dass sie mich loslassen sollen.«
»Das wäre nicht sehr schlau, Lettie«, antwortete Vikram. »Die halten dich fest, damit du nicht fällst, yaar, oder aufstehst und dich in einer Hochspannungsleitung verfängst oder so was. Nur noch eine halbe Minute, versprochen, dann kapierst du, was das alles soll.«
»Das tue ich jetzt schon, keine Sorge. Und eins sage ich dir: Wenn ich hier runterkomme, kannst du dein Testament machen, Vikram. Ich sag’s dir, wenn du denkst, dass ich – da kannst du mich genauso gut gleich von diesem blöden Dach runterschmeißen.«
Vikram löste ihre Augenbinde und beobachtete, wie Lettie sich umsah und die Aussicht vom Dach des Zuges betrachtete. Ihre Kinnlade klappte herunter, und auf ihrem Gesicht breitete sich langsam ein strahlendes Lächeln aus.
»Wow! Das ist … Wow! Die Aussicht ist ja wirklich fantastisch!«
»Und jetzt guck mal!«, forderte Vikram sie auf und zeigte nach vorn über die Waggondächer. Irgendetwas war quer über das Gleis gespannt, so hoch allerdings, dass der Zug bequem darunter durchfahren konnte. Es war an den Oberleitungsmasten befestigt. Und dieses Etwas war ein riesiges Transparent, das sich vor uns aufblähte wie ein Segel in einer beständigen Brise. Als wir näher kamen, konnten wir erkennen, was darauf stand. Die Buchstaben waren mannshoch und zogen sich über die gesamte Breite des wallenden Lakens:
LETITIA ICH LIEBE DICH
»Ich hatte Angst, dass du aufstehst und dich dabei verletzt«, sagte Vikram, »deshalb haben die Jungs dich festgehalten.«
Plötzlich stimmten die Musiker ein bekanntes Liebeslied an. Ihre Stimmen erhoben sich über das rhythmische, mitreißende Trommeln der Tablas und das helle Klagen der Flöten. Vikram und Lettie starrten einander wortlos an. Sie lösten den Blick auch dann nicht voneinander, als der Zug in einen Bahnhof einfuhr, anhielt und wieder weiterfuhr. Auf halber Strecke zum nächsten Bahnhof näherten wir uns einem zweiten Transparent. Vikram riss sich von Letties Blick los und schaute nach vorn. Sie tat es ihm gleich. Auf dem straff gespannten weißen Stück Stoff stand:
WILLST DU MICH HEIRATEN?
Unter dem Spruchband hindurch fuhren wir in das sanfte Licht des Nachmittags. Lettie weinte. Sie weinten beide. Vikram beugte sich vor und schloss sie in die Arme. Sie küssten sich. Ich betrachtete die beiden einen Moment lang, dann sah ich zu den Musikern hinüber. Sie sangen breit grinsend weiter und wiegten die Köpfe, und ich vollführte einen kleinen Siegestanz für sie, während der Zug ratternd durch die Vororte rollte.
Um uns herum wurden jeden Tag Millionen Träume geboren. Gleichzeitig starben Millionen andere Träume und wurden wiedergeboren. Die schwüle Luft Mumbais war von ihnen erfüllt.
Weitere Kostenlose Bücher