Shantaram
jedem Menschen einen Dichter und aus jeder banalité etwas Schönes. Es sind Länder, in denen die Liebe – amore, pyaar – aus einem Borsalino an der Straßenecke einen Kavalier und aus einem armen Bauernmädchen eine Prinzessin macht, und sei es auch nur für den kurzen Augenblick, in dem sich ihre Blicke treffen. Das Geheimnis meiner Liebe zu Indien ist, dass meine erste große Liebe ein Italiener war, Lin.«
»Wo bist du geboren, Didier?«
»Mein Körper ist in Marseille geboren, aber mein Herz und meine Seele wurden erst sechzehn Jahre später geboren, in Genua.«
Mit einer trägen Handbewegung bestellte er bei einem Kellner, der gerade herüberschaute, einen weiteren Drink. Er hatte das Glas, das vor ihm stand, kaum angerührt, daher nahm ich an, dass er zu einer seiner längeren Reden ansetzte. Es war zwei Uhr nachmittags an einem wolkenverhangenen Mittwoch, drei Monate nach der Nacht der Morde. Bis zu den ersten Regenfällen des Monsuns würde es noch eine Woche dauern, doch in der Stadt hatte sich bereits eine erwartungsfrohe Stimmung breitgemacht, eine Spannung, die alle Herzen etwas schneller schlagen ließ. Es war, als sammle sich vor den Toren eine riesige Armee zu einem unabwendbaren Angriff. Ich mochte die Woche vor dem Monsun: Die Anspannung und Aufregung, die ich bei anderen erlebte, entsprach der inneren Unruhe, die mich fast ständig erfüllte.
»Meine Mutter war eine zarte und schöne Frau, den Fotos nach zu urteilen«, fuhr Didier fort. »Sie war erst achtzehn, als ich geboren wurde, und noch keine zwanzig, als sie starb. Sie fiel der Grippe zum Opfer. Doch damals ging das Gerücht – ein grausames Gerücht, das mir wiederholt zu Ohren kam –, dass mein Vater so wenig für sie übrig hatte, dass er – wie sagt man gleich – zu knauserig war, um einen Arzt zu bezahlen, als sie krank wurde. Jedenfalls ist sie gestorben, als ich noch keine zwei Jahre alt war, und ich habe keinerlei Erinnerungen an sie.
Mein Vater war Chemie- und Mathematiklehrer und viel älter als meine Mutter. Als ich in die Schule kam, war mein Vater dort bereits Rektor. Es hieß, dass er ein brillanter Mann sei, denn als Jude müsse er brillant sein, um in einer französischen Schule Direktor zu werden. Le racisme, der Antisemitismus in Marseille und Umgebung, war damals, so kurz nach dem Krieg, wie eine Krankheit. Ich glaube, dass die Leute von Schuldgefühlen geplagt wurden. Mein Vater war jedenfalls ein Sturkopf – und Sturheit braucht man, glaube ich auch, wenn man Mathematiker werden will, findest du nicht? Vielleicht ist die Mathematik ja sogar selbst eine Spielart der Sturheit, was meinst du?«
»Vielleicht«, antwortete ich lächelnd. »So habe ich das noch nie betrachtet, aber vielleicht hast du recht.«
»Alors, mein Vater ging nach dem Krieg nach Marseille zurück und zog wieder in dasselbe Haus, aus dem die Judenhasser ihn damals rausgeworfen hatten, als sie die Stadt übernahmen. Er hatte in der Résistance gegen die Deutschen gekämpft und war im Nahkampf verwundet worden – deshalb wagte es keiner, etwas gegen ihn zu sagen. Jedenfalls nicht öffentlich. Aber ich bin mir sicher, dass sein jüdisches Gesicht, sein jüdischer Stolz und seine schöne, junge jüdische Frau die braven Bürger von Marseille an die vielen französischen Juden erinnerten, an die Tausende, die man verraten und in den Tod geschickt hatte. Es war ein kalter Triumph für ihn, zurückzukehren in dieses Haus, aus dem man ihn vertrieben hatte, und in diese Gemeinschaft, die ihn verraten hatte. Und ich glaube, als meine Mutter starb, hat diese Kälte von seinem Herzen Besitz ergriffen. Selbst seine Berührungen waren kalt, wenn ich jetzt daran zurückdenke. Wann immer er mich berührte – seine Hände waren kalt.«
Er hielt inne, trank einen Schluck und stellte das Glas dann langsam und bedächtig wieder genau auf den feuchten Kreis, den es auf dem Tisch hinterlassen hatte.
»Na ja, jedenfalls war er ein brillanter Mann«, fuhr Didier fort und blickte mit einem hastigen Lächeln zu mir auf. »Und mit einer einzigen Ausnahme war er auch ein brillanter Lehrer. Diese Ausnahme war ich. Ich war sein einziger Misserfolg. Ich hatte weder Sinn für Mathematik noch für die Naturwissenschaften. Für mich war das alles ein Buch mit sieben Siegeln. Mein Vater reagierte mit brutalen Wutanfällen auf meine Dummheit. Als Kind kam mir seine kalte Hand so riesig vor, dass die harte Handfläche und seine Peitschenfinger mit einem Streich meinen
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