Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
Vom Netzwerk:
Rücken. Sie war eine gute Mitfahrerin, eine von der Sorte, die dem Fahrer bedingungslos vertrauen und sich seinen Bewegungen perfekt anpassen. Durch mein dünnes weißes Hemd spürte ich ihre Brüste auf meinem Rücken. In dem warmen Wind trug ich das Hemd offen, und ihre Hände lagen auf meiner nackten Taille. Ich fuhr immer ohne Helm. Auf dem Gepäckträger hatte ich einen Helm für einen Mitfahrer dabei, doch Lisa fuhr auch lieber ohne. Ab und zu, wenn wir anhielten oder abbogen, blies mir ein Windstoß ihr langes lockiges Haar über die Schulter in den Mund. Ein Hauch von Zitronenverbene blieb auf meinen Lippen zurück. Ihre Oberschenkel hielten mich mit sanftem Druck und flüsterten mir verheißungsvoll – oder drohend – von ihrer Kraft. Ich erinnerte mich an diese Oberschenkel, an die Haut, die ich an jenem Abend in Karlas Wohnung weich wie Mondlicht unter den Händen gespürt hatte. Als läse sie meine Gedanken oder dächte das Gleiche, fragte mich Lisa, als wir das nächste Mal vor einer Ampel hielten:
    »Wie geht’s eigentlich dem Kleinen?«
    »Dem Kleinen?«
    »Diesem Jungen, den du damals bei Karla dabeihattest.«
    »Oh – dem geht’s gut. Ich habe ihn letzte Woche bei seinem Onkel gesehen. So klein ist er übrigens nicht mehr – er wächst ziemlich schnell. Er geht jetzt auf eine Privatschule. Es gefällt ihm wohl nicht sonderlich, aber er kommt zurecht.«
    »Vermisst du ihn?«
    Die Ampel wurde grün, und ich schaltete mit dem Fuß und gab mit der Hand Gas und lenkte das sonor tuckernde Motorrad auf die Kreuzung. Ich antwortete nicht. Natürlich vermisste ich Tariq. Er war ein guter Junge. Ich vermisste auch meine Tochter, meine Mutter und meine Verwandten. Und meine Freunde. Ich vermisste sie alle, und in jenen verzweifelten Jahren war ich sicher, dass ich sie alle niemals wiedersehen würde. Diese Menschen zu vermissen, war ein Akt der Trauer für mich, der besonders schwer zu ertragen war, weil sie – soweit ich wusste – alle am Leben waren. Manchmal fühlte mein Herz sich an wie ein Friedhof voller Grabsteine ohne Inschrift. Und wenn ich abends alleine in meiner Wohnung war, begann die Trauer mich zu würgen. Auf der Kommode lagen Geldbündel, und ich besaß druckfrische gefälschte Pässe, mit denen ich überallhin reisen konnte. Doch für mich gab es kein Irgendwo – nur ein Nirgendwo: Jeder Ort war durch die Abwesenheit jener Menschen jeglicher Bedeutung und Eigenart und Liebe beraubt worden.
    Dabei war ich der Entflohene. Ich war der Abwesende, der Verschwundene, der Vermisste. Doch im Windschatten meiner Flucht waren sie die Vermissten. In meinem Exil vermisste ich die gesamte Welt, die mir einmal vertraut gewesen war. Fliehende rennen davon und versuchen gegen den Willen ihres Herzens, die Vergangenheit auszulöschen, und mit ihr jede Spur, die verraten könnte, wer sie waren, woher sie kamen und wer sie einst liebte. Um zu überleben, rennen sie geradewegs hinein in diese Vernichtung ihres Selbst, doch sie scheitern unweigerlich.Wir können die Vergangenheit verleugnen, aber ihren Qualen können wir nicht entkommen, denn sie ist ein sprechender Schatten, der unserer inneren Wahrheit nicht von der Seite weicht, der uns folgt. Schritt für Schritt, bis zum Tod.
    Und aus der rötlich violetten Farbpalette des verblichenen Abends erstand eine blauschwarze Nacht. Mit dem Meereswind tauchten wir in Tunnel aus Licht. Die Robe des Sonnenuntergangs sank von den Schultern der Stadt. Lisas Hände glitten über meine harte Haut wie das Wasser der See, wie die wogenden kosenden Wellen des Meeres. Und auf diesem Motorrad wurden wir einen Augenblick lang eins: ein Verlangen, eine Verheißung, gezähmt von der Vernunft, ein Mund, kostend von Gefahr und Lust. Und etwas – es mag Liebe gewesen sein, vielleicht aber auch Furcht – neckte und lockte mich, raunte im warmen Wind: So jung und so frei wirst du nie wieder sein.
    »Möchtest du nicht einen Kaffee oder so was?« Sie hatte den Schlüssel schon ins Schloss ihrer Wohnungstür gesteckt.
    »Ich gehe jetzt besser.«
    »Kavita ist total begeistert von dieser Geschichte, die du ihr vermittelt hast, über die Frauen aus dem Slum. Die Schwestern, die von den Toten auferstanden sind. Sie redet über nichts anderes mehr. Die Blauen Schwestern nennt sie sie. Keine Ahnung, warum, aber es ist ein guter Name, finde ich.«
    Sie machte Smalltalk, um mich zu halten. Ich sah in den Himmel ihrer Augen.
    »Ich gehe jetzt besser.«
    Zwei Stunden später war ich

Weitere Kostenlose Bücher