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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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Applaus folgte. Die Musik wurde immer leiser, während ich mich entfernte, bis sie schließlich so schwach und leicht überhörbar war wie jeder Augenblick der Wahrheit.
    Ich wanderte stundenlang durch die Nacht, allein mit mir und der Stadt, der ich mit diesem Spaziergang meine Liebe zeigte, so wie damals, als ich noch im Slum gewohnt hatte. Als die Morgendämmerung nahte, kaufte ich mir eine Zeitung, setzte mich in ein Café und nahm in aller Ruhe ein üppiges Frühstück mit drei Kannen Chai zu mir. Auf Seite drei der Zeitung stand ein Artikel über die wundersamen Fähigkeiten der Blauen Schwestern, wie man Rashids Witwe und Schwester inzwischen weithin nannte. Der Artikel stammte von Kavita Singh und erschien laut Angabe auch in vielen anderen Zeitungen im Land. Sie schilderte darin kurz die Geschichte der Schwestern und referierte Berichte aus erster Hand über die Wunderheilungen, die den geheimnisvollen Kräften der Schwestern zugeschrieben wurden. Eine Frau behauptete, von Tuberkulose geheilt worden zu sein, eine andere beteuerte, sie könne plötzlich wieder hören, und ein alter Mann erklärte, seine schwache Lunge sei wieder stark und gesund, seit er den Saum eines der himmelblauen Gewänder berührt habe. Kavita erklärte in ihrem Artikel, dass die Blauen Schwestern sich ihren Namen nicht selbst ausgesucht hätten, sondern ihn zugeschrieben bekamen, weil sie nur noch Blau trügen, seit sie aus dem Koma erwacht seien. Das Blau erinnere die Schwestern an einen Traum, in dem sie durch den Himmel schwebten. Der Artikel schloss mit Kavitas Schilderung ihres Besuchs bei den Schwestern und dem Kommentar, dass die beiden zweifellos ganz besondere – womöglich sogar übernatürliche – Wesen seien.
    Ich bezahlte und lieh mir von dem Mann an der Kasse einen Stift, mit dem ich den Artikel mehrmals einkringelte. Während sich auf den Straßen das allmorgendliche Gewirr aus Klängen, Farben und hektischer Betriebsamkeit entfaltete, nahm ich ein Taxi, das mich rüttelnd und schüttelnd durch den mittlerweile gnadenlosen Verkehr zum Arthur-Road-Gefängnis brachte. Nach dreistündigem Warten wurde ich in den Besucherbereich vorgelassen. Es war ein großer Raum, in der Mitte geteilt durch zwei stabile Maschendrahtwände, zwischen denen ein etwa zwei Meter breiter leerer Gang verlief. Auf der einen Seite drängten sich etwa vierzig Besucher und krallten sich verbissen in den Maschendraht, um ihren Platz zu sichern. Gegenüber standen dicht an dicht zwanzig Gefangene, die sich ebenfalls an dem Maschendraht festklammerten. Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in diesem geteilten Raum rief irgendetwas. In dem Stimmengewirr waren zahllose Sprachen zu hören – ich erkannte sechs, zählte jedoch nicht mehr weiter, als sich auf der anderen Seite eine Tür öffnete und Anand heraustrat, der sich sogleich einen Weg zu dem Maschendraht bahnte.
    »Anand! Anand! Hier!«, rief ich.
    Er entdeckte mich und lächelte.
    »Linbaba, schön, dich zu sehen!«, rief er zurück.
    »Du siehst gut aus, Mann!« Er sah tatsächlich gut aus. Ich wusste, wie schwer es war, an diesem Ort gut auszusehen. Ich wusste, welche Mühe es ihn kostete, jeden Tag die Läuse aus seinen Kleidern zu klauben und sich mit dem wurmigen Wasser zu säubern. »Du siehst wirklich gut aus!«
    »Arrey, du aber auch, Lin.«
    Ich sah nicht gut aus. Das wusste ich. Ich sah besorgt und schuldbewusst und müde aus.
    »Ich bin … ein bisschen müde. Mein Freund Vikram – du erinnerst dich doch an ihn? Er hat gestern geheiratet. Vorgestern, um genau zu sein. Und ich bin die ganze Nacht durch die Stadt gelaufen.«
    »Wie geht es Qasim Ali? Geht es ihm gut?«
    »Ja«, erwiderte ich und errötete leicht, weil ich diesen guten, hochherzigen Mann nicht mehr so oft besuchte wie früher, als ich noch im Slum gewohnt hatte. »Schau mal! Schau dir diese Zeitung an. Da ist ein Artikel über die Schwestern drin. Und du wirst auch darin erwähnt. Den können wir nutzen, um dir zu helfen. Wir können bei der Bevölkerung Mitleid schüren, bevor dein Fall vor Gericht kommt.«
    Sein schönes schmales Gesicht verfinsterte sich, eine tiefe Falte erschien auf seiner Stirn, und er presste trotzig die Lippen zusammen.
    »Das darfst du nicht machen, Lin!«, rief er mir zu. »Diese Journalistin, Kavita Singh, die war hier bei mir. Ich habe sie weggeschickt. Und wenn sie nochmal kommt, schicke ich sie wieder weg. Ich will keine Hilfe, und ich werde auch nicht zulassen, dass mir jemand hilft. Ich

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