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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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will für das, was ich Rashid angetan habe, bestraft werden.«
    »Aber begreif das doch«, beharrte ich. »Die beiden sind jetzt berühmt. Die Leute halten sie für Heilige und glauben, sie könnten Wunder vollbringen. Jede Woche kommen Tausende von Anhängern in das Zhopadpatti. Wenn die Leute erfahren, dass du den beiden helfen wolltest, dann werden sie Mitleid mit dir haben. Und dann musst du nur halb so lange sitzen, oder sogar noch kürzer.«
    Ich schrie mich heiser, damit er mich in diesem Höllenlärm verstand. Es war so heiß in dem Gedränge, dass mir das Hemd klatschnass am Körper klebte. Hatte ich ihn wirklich richtig verstanden? Es schien mir unvorstellbar, dass er ein Hilfsangebot ausschlug, durch das sein Urteil gemildert werden könnte. Ohne diese Hilfe würde er mindestens fünfzehn Jahre absitzen müssen. Fünfzehn Jahre in dieser Hölle, dachte ich, während ich durch den Maschendraht auf sein finsteres Gesicht starrte. Wie kann er unsere Hilfe ablehnen?
    »Nein, Lin!«, schrie er noch lauter als zuvor. »Ich habe das mit Rashid wirklich getan. Und ich habe genau gewusst, was ich tue. Ich wusste, was passieren würde. Ich habe lange neben ihm gesessen, bevor ich es schließlich getan habe. Ich habe eine Entscheidung getroffen. Und ich muss dafür bestraft werden.«
    »Aber ich muss dir helfen. Ich muss es wenigstens versuchen.«
    »Nein, Lin, bitte! Wenn du mir die Strafe wegnimmst, hat das, was ich getan habe, keinen Sinn mehr. Dann hat es nichts Ehrenhaftes mehr. Weder für mich noch für die Schwestern. Verstehst du das nicht? Ich habe diese Strafe verdient. Ich habe mein Schicksal in die Hand genommen. Ich bitte dich als meinen Freund: Lass nicht zu, dass sie noch mehr über mich schreiben. Über die Frauen können sie ruhig schreiben. Über die Schwestern. Das schon. Aber mir sollen sie mein Schicksal und meinen Frieden lassen. Versprichst du mir das? Linbaba? Schwörst du es mir?«
    Meine Finger krallten sich in die rautenförmigen Drahtmaschen. Das kalte rostige Metall drückte gegen meine Fingerknochen. Der Lärm in diesem holzverkleideten Raum klang wie ein stürmischer Regen auf den zusammengeflickten Dächern des Slums. Ein vielstimmiges hysterisches Beschwören, Betteln, Bewundern, Sehnen, Weinen, Schreien und Lachen waberte zwischen den beiden Käfigen hin und her.
    »Schwör es mir, Lin«, bat er mich, und aus seinem flehentlichen Blick sprach all seine Herzensnot.
    »Also gut«, antwortete ich, doch ich brachte die Worte nur mühsam hervor.
    »Schwör es mir!«
    »Okay, okay! Ich schwöre es dir, Herrgott nochmal. Ich schwöre, dass ich … dass ich nicht versuchen werde, dir zu helfen.«
    Sein Gesicht entspannte sich, und das Lächeln, das darauf erschien, war von beinahe schmerzlicher Schönheit.
    »Danke, Linbaba!«, rief er froh zurück. »Und bitte halt mich nicht für undankbar, aber ich möchte nicht, dass du nochmal kommst. Ich will nicht, dass du mich besuchst. Du kannst ab und zu etwas Geld für mich zur Seite legen, wenn du dran denkst. Aber bitte komm nicht nochmal her. Das hier ist jetzt mein Leben. Es ist mein Leben. Und wenn du wieder herkommst, macht das alles nur noch schwieriger für mich. Dann komme ich ins Grübeln. Ich danke dir vielmals, Lin, und ich wünsche dir, dass du glücklich bist.«
    Er ließ den Maschendraht los und legte die Hände zum Segen aneinander, wobei er den Kopf leicht neigte, sodass wir den Blickkontakt verloren. Da er sich nicht mehr festhielt, konnte er sich gegen die anderen Gefangenen nicht behaupten und war hinter den Gesichtern und Händen der nach vorne Drängenden bald nicht mehr zu sehen. Am Ende des Raums öffnete sich eine Tür, und Anand schlüpfte hinaus in das gelbe heiße Tageslicht, hoch erhobenen Hauptes, die schmalen Schultern tapfer gestrafft.
    Ich trat auf die Straße. Meine Haare waren so schweißnass wie meine Kleider. Ich blinzelte in der grellen Sonne und starrte auf das Treiben in der belebten Straße. Versuchte, mich auf ihren Rhythmus, ihre Betriebsamkeit einzulassen, versuchte, nicht an Anand in jenem langen Raum mit den Gefangenenaufsehern zu denken, mit Big Rahul, dem Hunger, den Misshandlungen und dem widerlichen, wimmelnden Ungeziefer. Ich würde abends bei Prabaker und Johnny Cigar sein, bei Anands Freunden, und mit ihnen ihre Doppelhochzeit feiern. Anand würde mit zweihundert anderen Männern in drangvoller Enge auf dem Steinboden schlafen, von Läusen geplagt. Und das Nacht für Nacht, fünfzehn Jahre

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