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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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lang.
    Ich nahm ein Taxi nach Hause und stellte mich unter die Dusche, wusch mir mit dem heißen Wasser die kriechende, juckende Erinnerung von der Haut. Später rief ich Chandra Mehta an, um letzte Details der Tanzvorstellung zu besprechen, die ich für Prabakers Hochzeit organisiert hatte. Danach rief ich Kavita Singh an und teilte ihr mit, dass Anand unsere Kampagne beendet wissen wollte. Ich glaube, sie war erleichtert. Sie war von ganzem Herzen um ihn besorgt gewesen, denn sie hatte von Anfang an befürchtet, dass die Kampagne nicht den gewünschten Effekt erzielen könnte und er dann unter der Last der enttäuschten Hoffnung zusammenbrechen würde. Außerdem war sie froh, dass er der Berichterstattung über die Blauen Schwestern seinen Segen gegeben hatte. Sie war fasziniert von den beiden Frauen und hatte den Besuch eines Dokumentarfilmers im Slum organisiert. Sie wollte mit mir über ihr Projekt reden, und ich hörte die übersprudelnde Begeisterung in ihrer Stimme, doch ich unterbrach sie und versprach, sie später noch einmal anzurufen.
    Mit nacktem Oberkörper trat ich auf meinen kleinen Balkon und nahm die Geräusche und Gerüche der Stadt in mich auf. Unten in einem Hof sah ich drei junge Männer eine Tanznummer aus einem Bollywoodfilm üben. Sie schütteten sich aus vor Lachen, wenn einer von ihnen mit einem falschen Schritt die Nummer vermurkste, und brachen in lauten Jubel aus, als es ihnen schließlich gelang, sie fehlerlos durchzutanzen. In einem anderen Hof hockten ein paar Frauen zusammen und wuschen mit Kokosfaserschwämmen und einem langen Stück korallenroter Seife Geschirr ab. Unter Gelächter, spitzen Schreien und ungläubigem Japsen tauschten sie Klatsch und boshafte Kommentare über die eigenartigen Gewohnheiten der Männer ihrer Nachbarinnen aus. Als ich aufschaute, sah ich, dass im Haus gegenüber ein älterer Mann am Fenster stand. Unsere Blicke trafen sich, und ich lächelte. Er hatte mich beobachtet, wie ich die Leute unten beobachtete. Er wiegte den Kopf und erwiderte mein Lächeln mit einem fröhlichen Grinsen.
    Und es war alles gut so, wie es war. Ich zog mich an und ging hinunter. Ich klapperte die zentralen Sammelstellen des Devisenschwarzmarkts ab, schaute in Abdul Ghanis Passwerkstatt vorbei und befasste mich mit einigen Neuerungen im Goldschmuggelring, den ich in Khaders Namen umstrukturiert hatte. Innerhalb von drei Stunden beging ich dreißig oder mehr Straftaten. Wenn ich angelächelt wurde, lächelte ich zurück. Wo es nötig war, schüchterte ich Männer durch mein Auftreten so sehr ein, dass sie zurückwichen und verängstigt den Blick senkten. Ich ging wie ein Goonda und wusste in drei Sprachen wie ein Goonda zu reden. Ich sah gut aus. Ich tat meine Arbeit. Ich verdiente Geld und war immer noch auf freiem Fuß. Doch die verborgene dunkle Galerie tief in meinem Innern war um ein weiteres Bild ergänzt worden – das Bild von Anand mit aneinandergelegten Handflächen und einem strahlenden Lächeln, das Gebet und Segen war.
    Alles, was wir empfinden, indem wir etwas berühren, schmecken, sehen oder sogar denken, hinterlässt Spuren in uns. Einige Dinge, wie das Zwitschern eines Vogels, der in der Abenddämmerung am Haus vorbeifliegt, oder eine Blume, die man aus dem Augenwinkel wahrnimmt, haben eine so geringfügige Wirkung, dass man sie nicht bemerkt. Andere – ein Triumph oder Leid oder manche Bilder, wie das eigene Spiegelbild in den Augen eines Mannes, den man gerade niedergestochen hat – finden Eingang in die geheime Bildergalerie im Innersten und verändern das Leben für immer.
    Der letzte Anblick von Anand gehörte für mich zu jenen Bildern. Das heftige Gefühl, das ich empfand, war nicht Mitleid, obwohl ich ihn so aufrichtig bemitleidete, wie es nur ein Mann tun kann, der selbst in Ketten liegt. Es war auch nicht Scham, obwohl ich mich zutiefst schämte, dass ich nicht richtig zugehört hatte, als er versucht hatte, mir von Rashid zu erzählen. Es war etwas anderes, etwas so Eigenartiges, dass ich Jahre brauchte, um dieses Gefühl wirklich zu begreifen. Es war Neid, der mir dieses Bild ins Gedächtnis brannte. Ich beneidete Anand, als er sich abwandte und aufrecht in diese endlosen Jahre des Leidens schritt. Ich beneidete ihn um seinen inneren Frieden, seinen Mut und sein vollkommenes Verständnis seiner selbst. Khaderbhai sagte einmal, dass wir auf dem besten Wege zur Weisheit sind, wenn wir jemanden aus den richtigen Gründen beneiden. Ich hoffe, er hatte

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