Shantaram
werden. Ich denke mir, dass diesen Menschen das Herz bricht, wenn sie sehen, das Leute aus anderen Teilen von Indien in schönen Häusern leben, während sie sich in ihrer Hauptstadt im Rinnstein waschen müssen.«
Ich aß ein paar Bissen und wartete Mehtas Reaktion ab, mit der er sich ein paar Minuten Zeit ließ.
»Aber, hey, Lin, das ist nicht das ganze Bild«, sagte er. »Du hast einiges ausgelassen.«
»Richtig«, pflichtete ich ihm bei. »Dass zum Beispiel im Slum nicht nur Marathen leben, sondern auch Punjabis, Tamilien, Karnatakier, Bengalen, Assamesen und Kashmiri. Und nicht nur Hindus, sondern auch Sikhs, Muslime, Christen, Buddhisten, Parsen und Jainas. Die Probleme hier betreffen nicht nur Marathen. Die Armen kommen, wie die Reichen, aus allen Teilen von Indien. Aber zu viele von ihnen sind arm und zu wenige reich.«
»Arrey baap!«, schnaubte Chandra Mehta. Heiliger Vater! »Du hörst dich ja an wie Cliff. Der ist ein Scheißkommunist. Diese Leier kenne ich schon von ihm, yaar.«
»Ich bin weder Kommunist noch Kapitalist«, erwiderte ich lächelnd. »Eher so was wie ein Lasst-mich-alle-in-Ruhe-Ist.«
»Das würde ich ihm nicht glauben«, warf Lisa ein. »Lin hilft jederzeit jedem, der in Schwierigkeiten steckt.«
Ich wandte mich zu ihr, und wir sahen uns gerade lange genug an, um uns schuldig und gut zugleich zu fühlen.
»Fanatismus ist das Gegenteil von Liebe«, fuhr ich fort, mich an eine von Khaderbhais Lektionen erinnernd. »Ein weiser Mann – ein Muslim übrigens – hat mir einmal gesagt, dass er mit einem rationalen vernunftbetonten Juden mehr gemein hat als mit einem Fanatiker seiner eigenen Religion. Er hat mehr gemein mit einem rationalen vernunftbetonten Christen, Buddhisten oder Hindu als mit einem Fanatiker seiner eigenen Religion. Er hat sogar mit einem rationalen vernunftbetonten Atheisten mehr gemein als mit einem Fanatiker seiner eigenen Religion. Ich pflichte ihm bei, denn so empfinde ich auch. Und ich pflichte auch Winston Churchill bei, der Fanatiker definiert hat als Menschen, die niemals ihre Meinung ändern werden und niemals das Thema wechseln können.«
»Apropos«, warf Lisa lächelnd ein, »lasst uns doch das Thema wechseln. Komm, Cliff, du bist der einzige, der mir von den ganzen Liebschaften beim Dreh zu Kanoon erzählen kann. Also, was ist da los?«
»Ja! Ja!«, rief Reeta aufgeregt. »Und erzählen Sie bitte auch alles über das neue Mädchen. Sie ist ja so skandalös, dass ich ihren Namen nicht mal auszusprechen wage, yaar. Und bitte alles, unbedingt alles über Anil Kapoor! Ich bin total verknallt in den!«
»Und Sanjay Dutt!«, fügte Geeta mit bebender Stimme hinzu. »Stimmt es, dass er wirklich auf dieser Party in Versova war? Oh mein Gott! Ich wäre so gerne dabei gewesen! Bitte erzählen Sie uns alles!«
Von der fieberhaften Neugierde angespornt, erging sich Cliff de Souza darauf in Anekdoten über die Bollywood-Stars, und Chandra Mehta warf gelegentlich weitere Klatschgeschichten ein. Es war unübersehbar, dass Cliff ein Auge auf Reeta geworfen hatte, und Chandra Mehta wandte sich häufig Geeta zu. Der ausgedehnte Lunch schien Auftakt für den Rest des Tages und den kommenden Abend zu sein. Mit dessen Freuden sich beide Männer offenbar in Gedanken schon beschäftigten, denn ihre teilweise bizarren Klatschgeschichten drehten sich zusehends um Sex und sexuelle Skandale aller Art. Wir lachten gerade lauthals, als Kavita Singh das Restaurant betrat, und grinsten noch, als sie an den Tisch trat und ich sie den anderen vorstellte.
»Entschuldigung«, sagte sie mit einem Stirnrunzeln, das nur durch schlimme Sorgen entsteht. »Ich muss mit dir reden, Lin.«
»Du kannst auch hier über den Fall reden, Kavita«, erwiderte ich, noch immer erheitert von unserem Gelächter. »Das werden alle interessant finden.«
»Es geht nicht um den Fall«, sagte sie fest. »Es geht um Abdullah Taheri.«
Ich stand sofort auf, entschuldigte mich bei den anderen und bedeutete Lisa mit einem Kopfnicken, dass sie auf mich warten solle. Kavita und ich gingen in den Vorraum des Restaurants. Als wir alleine waren, sagte sie: »Dein Freund Taheri steckt übel in der Scheiße.«
»Was soll das heißen?«
»Ich hab einen Tipp gekriegt vom Polizeireporter der Times. Er sagt, Abdullah steht auf der Abschussliste der Polizei. Sofort schießen, lautet wohl der Befehl.«
»Was?«
»Die offizielle Anweisung ist wohl, ihn lebendig zu schnappen, aber sie wollen kein Risiko eingehen. Sie
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