Shantaram
Kampfes hielt die Menge bislang davon ab, sich auf mich zu hechten und unter sich zu begraben.
Da bahnte sich eine Truppe von etwa zehn Männern entschlossen einen Weg durch das Getümmel, und unvermittelt stand Khaled Ansari vor mir. Ich schlug mechanisch um mich und hätte ihn beinahe getroffen, doch er streckte beide Hände aus und bedeutete mir, dass ich aufhören sollte. Seine Männer drängten sich wieder zurück in die Menge, und Khaled schob mich hinterher. Jemand traf mich am Hinterkopf, woraufhin ich kehrtmachte und wieder auf den Mob losrannte, bereit, gegen jeden einzelnen Mann der Stadt zu kämpfen, mich zu prügeln, bis ich gefühllos war, bis ich diesen Speer, den Speer des toten Abdullah, nicht mehr in meiner Brust spüren musste. Khaled und zwei seiner Freunde umschlangen mich und zerrten mich aus dem tobenden irrsinnigen Menscheninferno.
»Er ist verschwunden«, offenbarte mir Khaled, als wir mein Motorrad gefunden hatten, und wischte mir mit einem Taschentuch Blut aus dem Gesicht. Mein Auge schwoll rasch zu, und aus meiner Nase und der aufgeplatzten Unterlippe quoll Blut. Ich hatte die Schläge nicht gespürt. Sie schmerzten auch nicht. Der Schmerz saß in meiner Brust, direkt neben meinem Herz, und ich spürte ihn mit jedem Atemzug.
»Die Menge hat das Gebäude gestürmt. Hunderte, bevor wir hier waren. Als die Polizei das Revier wieder geräumt hatte, war die Zelle leer, in die sie ihn gelegt hatten. Und alle anderen Gefangenen waren frei gelassen worden.«
»Oh nein«, stöhnte ich. »Oh Gott. Oh Scheiße.«
»Wir haben Leute auf die Suche angesetzt«, sagte Khaled ruhig. »Wir werden erfahren, was passiert ist. Wir werden die … wir werden ihn finden.«
Ich fuhr zurück zum Leopold’s, wo Johnny Cigar inzwischen an Didiers Tisch saß. Didier und Lisa waren verschwunden. Ich sank auf einen Stuhl neben Johnny, stützte die Ellbogen auf den Tisch und rieb mir mit den Handballen die Augen.
»Es ist so schlimm«, sagte Johnny.
»Ja.«
»Das hätte einfach nicht passieren dürfen.«
»Nein.«
»Und es hätte auch nicht passieren müssen. Nicht so.«
»Nein.«
»Er hätte diese Fahrt nicht übernehmen müssen. Es war die letzte, und er brauchte sie nicht einmal. Er hatte gestern genug eingenommen.«
»Was?«, fragte ich und starrte ihn verwirrt und aufgebracht an.
»Prabakers Unfall.«
»Was?«
»Der Unfall«, wiederholte Johnny.
»Was für ein … Unfall?«
»Oh mein Gott, Lin, ich dachte, du wüsstest es schon«, sagte Johnny. Das Blut wich ihm aus dem Gesicht, und Tränen traten ihm in die Augen. Seine Stimme brach, als er sagte: »Ich dachte, du wüsstest es. Als ich dein Gesicht gesehen habe, dachte ich, du wüsstest es. Ich warte schon seit über einer Stunde auf dich. Ich habe dich sofort gesucht, als ich aus dem Krankenhaus kam.«
»Krankenhaus …«, wiederholte ich mechanisch.
»Er ist im St. George Hospital, auf der Intensivstation. Die Operation –«
»Welche Operation?«
»Er ist verletzt – sehr schwer verletzt, Lin. Die Operation war … er lebt noch, aber …«
»Aber was?«
Johnny verlor die Fassung und brach in Tränen aus; dann zwang er sich, tief einzuatmen, um weiterzusprechen.
»Gestern spätnachts hat er noch zwei Fahrgäste aufgenommen. Eigentlich war es schon heute, es war drei Uhr nachts. Ein Mann und seine Tochter, die zum Flughafen wollten. Auf der Schnellstraße war ein Handkarren unterwegs. Du weißt ja, dass die, obwohl es verboten ist, immer wieder nachts auf der Hauptstraße fahren, damit sie die schweren Karren nicht kilometerweit schieben müssen. Auf diesem Karren lagen Stahlstreben für eine Baustelle. Lange Stahlstreben. Der Karren ist den Männern weggerutscht und an einem Hügel abwärts gerollt. Prabaker bog um eine Ecke, und der Karren ist in das Taxi gerast. Ein paar von den Stahlstreben haben die Windschutzscheibe durchbohrt. Der Mann und die Frau sind tot, ihre Köpfe wurden abgetrennt. Und Prabaker wurde im Gesicht getroffen.«
Er begann erneut zu schluchzen, und ich legte ihm den Arm um die Schultern. Von anderen Tischen blickten Gäste herüber, schauten aber sofort wieder weg. Als Johnny sich beruhigt hatte, bestellte ich einen Whisky für ihn. Er schüttete den Whisky so schnell in sich hinein wie Prabaker an dem Tag, als ich ihn kennen lernte.
»Wie schlimm ist es?«
»Der Arzt sagt, er wird sterben, Lin«, schluchzte Johnny. »Er hat keinen Kiefer mehr. Dieses Stahlstück hat alles weggerissen, seine Zähne und seinen
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