Shantaram
Motorrollern und Autos hindurch belieferten sie Büros und Geschäfte in der ganzen Stadt. Keiner außer den Austrägern wusste, wie das Ganze genau funktionierte: wie Männer, die kaum des Lesens und Schreibens mächtig waren, jenes undurchschaubare, hochkomplizierte System von Symbolen, Farben und Kennziffern hatten entwickeln können, mit denen die Büchsen markiert und identifiziert wurden; wie Tag für Tag Hunderttausende dieser identischen Behältnisse auf den hölzernen, mit Schweiß geölten Radachsen durch die Stadt rollten und stets den richtigen Mann, die richtige Frau unter Millionen erreichten; und wie sich all das für einen Preis bewerkstelligen ließ, der nicht in Dollar, sondern in Cents bemessen wurde. Magie, diese Verbindung zwischen dem Gewöhnlichen und dem Unmöglichen, war der unsichtbare Fluss, der in jenen Tagen durch jede Straße und jedes schlagende Herz von Bombay strömte, und nichts – von der Postzustellung bis zum Flehen der Bettler – funktionierte ohne einen kleinen Anteil davon.
»Welche Nummer ist er dieser Bus, Linbaba? Schnell, sagst du mir.«
»Augenblick«, ich zögerte, spähte aus dem halb offenen Fenster des Taxis und versuchte, die Zahlenschnörkel auf einem roten Doppeldeckerbus zu entziffern, der gerade auf der anderen Straßenseite hielt. »Das ist, äh, eins-null-vier, stimmt’s?«
»Sehr, sehr prima! Hast du so fein gelernt die Hindi-Zahlen. Ist es jetzt kein Problem mehr für dich – kannst du lesen viel prima Zahlen für Bus und Zug und Speisekarte, und kannst du jetzt auch kaufen prima Rauschegift und andere gute Sachen. Und jetzt sagst du mir, was ist alu palak ?«
»Alu palak ist Kartoffeln mit Spinat.«
»Gut. Und fein prima Essen auch, hast du vergessen zu sagen. Ich mag viel gern alu palak. Und was ist phul gobhi und bhindi ?«
»Das ist … ach ja, Blumenkohl und … Okra.«
»Richtig. Und fein prima Essen auch, hast du wieder vergessen. Was ist baingan masala ?«
»Das ist, äh, gewürzte Aubergine.«
»Wieder ist richtig! Wie, magst du es nicht baingan ?«
»Ja ja, okay! Baingan schmeckt auch gut.«
»Mag ich nicht sehr baingan«, sagte Prabu verächtlich und rümpfte seine kurze Nase. »Und was heißt sich chehra, munh und dil ?«
»Okay … nicht sagen … Gesicht, Mund und Herz. Stimmt das?«
»Stimmt sehr richtig, kein Problem. Habe ich gut geschaut, wie du isst so schön mit deine Hände, ist das gute indische Art. Und hast du gut gelernt zu fragen die Leute immer in Hindi – wie viel ist dies, wie viel ist das, bitte zwei Tassen Tee, will ich mehr Haschisch. Habe ich das alles gesehen. Bist du mein beste Schüler, Linbaba. Und bin ich doch auch dein beste Lehrer.«
»Eindeutig, Prabu«, lachte ich. »He! Vorsicht!«
Mein Schrei warnte den Taxifahrer gerade noch rechtzeitig, sodass er dem Ochsenkarren ausweichen konnte, der vor uns zu wenden versuchte. Der Taxifahrer, ein stämmiger, dunkelhäutiger Mann mit borstigem Schnauzer, schien erbost darüber zu sein, dass ich die Frechheit besessen hatte, uns das Leben zu retten. Als wir in das Taxi eingestiegen waren, hatte er seinen Rückspiegel so ausgerichtet, dass er nur mein Gesicht darin sah. Nach diesem Beinaheunfall starrte er mich zornig an und fauchte einen Schwall Schimpfwörter auf Hindi. Er fuhr das Taxi wie einen Fluchtwagen, scherte schlingernd nach links oder rechts aus, um langsamere Fahrzeuge zu überholen. Sein Verhalten gegenüber allen anderen auf der Straße war geprägt von Streitlust und bösartiger Freude am Schikanieren. Er fuhr jedem langsameren Fahrzeug bis auf wenige Zentimeter auf, hupte laut und versuchte es abzudrängen. Sobald das langsamere Auto etwas nach links ausscherte, um uns vorbeizulassen, fuhr unser Fahrer auf gleiche Höhe auf und beschimpfte den anderen Fahrer. Sah er das nächste langsame Fahrzeug vor uns, trat er wieder aufs Gas, und das Ganze wiederholte sich. Ab und zu öffnete er die Fahrertür, beugte sich hinaus und spuckte Paansaft auf die Straße. Dabei achtete er sekundenlang überhaupt nicht auf den Verkehr.
»Der Kerl ist wahnsinnig!«, murmelte ich Prabaker zu.
»Ist es nicht so sehr gut, sein Autofahren«, keuchte Prabaker, der sich mit beiden Händen an der Rückenlehne des Fahrersitzes festklammerte. »Aber muss ich sagen, Spucken und Schimpfen ist erste Klasse.«
»Herrgott noch mal, sag ihm, dass er anhalten soll!«, rief ich, als der Wagen wieder beschleunigte und mit wilden Schlingern nach links und rechts ins nächste
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