Shantaram
Charme etwas von einem Lord Byron. Lettie finde ich auch sehr süß. Sie hat immer ein Lachen in den Augen – und ihre Augen sind richtig eis blau, findest du nicht? Und Ulla hat etwas Puppenhaftes mit diesen großen Augen und dem Schmollmund in dem runden Gesicht. Ein hübsches Puppengesicht. Maurizio ist attraktiv wie ein Model, und Modena sieht auf eine andere Weise gut aus, wie ein Stierkämpfer oder so. Und du … du bist die schönste Frau, die ich jemals gesehen habe.«
Nun hatte ich es ausgesprochen. Und noch im Erschrecken darüber, dass ich meinen Gedanken preisgegeben hatte, fragte ich mich, ob sie ihn wirklich verstand, ob sie meine Worte über das Äußere ihrer Freunde und über ihre eigene Schönheit so weit durchschaute, dass sie die Verletztheit darin erkennen konnte: die Verletztheit, die ein hässlicher Mann in jedem Moment der bewussten Liebe empfindet.
Sie lachte – ein großes breites tiefes Lachen –, packte mich am Arm und zog mich den Gehweg entlang. In diesem Augenblick war, wie durch ihr Lachen aus dem Dunkeln gelockt, ein Klappern und Rumpeln auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu hören. Ein Bettler polterte auf einer kleinen Holzplatte, unter die Metallrollen montiert waren, vom Gehweg auf die Fahrbahn. Er stieß sich mit den Händen vom Boden ab, bis er die Mitte der leeren Straße erreicht hatte, und kam dann mit einer schwungvollen Pirouette zum Stehen. Seine jämmerlich dünnen Beine waren gleich denen einer Gottesanbeterin neben ihm auf der Holzplatte angewinkelt, die nicht größer als eine zusammengefaltete Zeitung war. Er trug eine Schuluniform – Khakishorts und ein himmelblaues Hemd. Obwohl er mindestens zwanzig Jahre alt sein musste, waren ihm die Kleider zu groß.
Karla rief seinen Namen, und wir blieben auf seiner Höhe stehen. Die beiden unterhielten sich eine Weile auf Hindi. Ich betrachtete fasziniert die Hände des Mannes, die riesig waren – so breit wie sein Gesicht. Im Licht der Straßenlaterne sah ich, dass er an Fingern und Handflächen dicke Ballen hatte, wie bei den Tatzen eines Bärs.
»Gute Nacht!«, rief er schließlich auf Englisch. Er hob eine Hand und berührte erst seine Stirn und dann sein Herz, eine Geste formvollendeter Höflichkeit. Mit einer übertriebenen Pirouette setzte er sich wieder in Bewegung, beschleunigte und rollte immer schneller das sanfte Gefälle zum Gateway of India hinunter.
Wir sahen ihm nach, bis er verschwunden war, dann nahm Karla mich am Arm und zog mich auf den Fußweg zurück. Ich erlaubte mir, geführt zu werden. Ich erlaubte mir, mich mitreißen zu lassen vom perlenden Lauf ihrer Stimme, vom sanften Bitten der Wellen; vom schwarzen Himmel und der dunkleren Nacht ihres Haars; vom Hauch des Parfums auf ihrer warmen Haut und vom Duft der schlafenden Straße, die nach Meer, Stein, Bäumen roch. Ich erlaubte mir, hineingezogen zu werden in ihr Leben und ins Leben der Stadt. Ich begleitete Karla nach Hause. Ich sagte ihr Gute Nacht. Und ich sang leise vor mich hin, als ich durch die stillen versonnenen Straßen zu meinem Hotel wanderte.
D RITTES K APITEL
S o, du meinst also, jetzt geht es wirklich zur Sache?«
»Wirst du sehen viel Leben, Baba«, versicherte mir Prabaker, »wird auch sein viel von allem. Jetzt wirst du sehen sie, die wirklich Stadt. Normalerweise ich führe niemals Touristen zu solche Plätze. Gefällt es sie nicht und gefällt mir nicht, dass sie nicht gefällt. Oder vielleicht manchmal gefällt es sie zu prima dort, und gefällt mir dies gar nicht. Braucht man eine gute Kopf, um zu mögen diese Dinge. Und braucht man ein gute Herz, um nicht sie zu mögen zu viel. Wie du, Linbaba. Bist du mein guter Freund. Das ich habe sehr erkannt am erster Tag, als wir haben getrunken Whisky in deine Zimmer. Jetzt, mit deine gute Kopf und dein gutes Herz, wirst du ganz sehen es, mein Bombay.«
Wir fuhren in einem Taxi die Mahatma Gandhi Road entlang, an der Flora Fountain vorbei Richtung Victoria Station. Es war eine Stunde vor Mittag, und der Verkehrsstrom, der sich durch die steinerne Schlucht wälzte, schwoll durch die Unmengen von Laufburschen, die Tiffin-Karren schoben, noch weiter an. Diese Laufburschen holten in Wohnungen und Häusern fertig gekochte Mittagessen ab und verstauten sie in Blechbüchsen, die auch jalpaans oder tiffins genannt werden. Sie schoben riesige Wannen voller Tiffins auf langen Holzkarren vor sich her, sechs Mann und mehr pro Karren. Durch die Blechlawine aus Bussen, Lastern,
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