Shantaram
Trauer, in der es keine Sterne gibt ohne dich, kein Lachen und keinen Schlaf.
D REISSIGSTES K APITEL
H eroin ist ein Floatingtank für die Seele. Wer auf dem Toten Meer der Droge treibt, empfindet keinen Schmerz, weder Reue noch Scham, keine Schuld und keine Trauer, keine Schwermut und keinerlei Verlangen. Die Welt des Schlafes umschließt jedes einzelne Atom der Existenz. Unantastbare Ruhe und Stille zerstreuen Angst und Leid. Gedanken driften dahin, Meeresalgen gleich, verschwinden in der fernen grauen Schläfrigkeit, unbemerkt und vage. Der Körper sinkt in Winterschlaf; das teilnahmslose Herz schlägt nur schwach, und manchmal wispert noch ein Atemzug. Dumpfes Nichts lähmt die Glieder, und der Schlafende gleitet tiefer, immer weiter hinunter ins Vergessen, die ewige, die vollkommene Betäubung.
Doch diese chemische Absolution erhält man, wie überall im Universum, nur um den Preis des Lichts. Das erste Licht, das Fixer verlieren, ist das Licht in ihren Augen. Die Augen von Fixern sind so lichtlos wie die Augen griechischer Statuen, so lichtlos wie gehämmertes Blei, so lichtlos wie das Einschussloch im Rücken eines toten Mannes. Das nächste Licht, das verloren geht, ist das Licht des Verlangens. Fixer töten das Verlangen mit derselben Waffe, mit der sie Hoffnungen, Träume und die Ehre erledigen: mit dem Knüppel der Sucht. Und wenn all die anderen Lichter des Lebens verschwunden sind, erlischt zuletzt das Licht der Liebe. Früher oder später, wenn es um den letzten Schuss geht, wird der Fixer eher die Frau aufgeben, die er liebt, als ohne Stoff zu leben; früher oder später wird jeder Fixer ein Teufel im Exil.
Ich schwebte. Ich trieb dahin, von der Flüssigkeit auf dem Löffel in die Lüfte erhoben, und der Löffel war so groß wie das Zimmer. Das Floß der Betäubung trieb über den kleinen See auf dem Löffel, und die Balken über meinem Kopf schienen eine Antwort für mich bereitzuhalten, schienen eine Antwort zu bergen in ihrer Symmetrie. Ich starrte die Dachbalken an und wusste, dass die Antwort dort zu finden war und dass sie mich retten würde. Und dann schloss ich wieder meine bleiernen Lider und verlor die Antwort. Manchmal erwachte ich. Manchmal war ich so wach, dass ich noch mehr haben wollte von der betäubenden Droge. Und manchmal war ich so wach, dass ich mich an alles erinnerte.
Es gab keine Bestattung für Abdullah, weil wir keinen Körper hatten, den wir bestatten konnten. Seine Leiche war während der Tumulte verschwunden, wie die von Maurizio – so spurlos wie ein ausgebrannter Stern. Doch Prabakers Leiche trug ich mit den anderen zum Ghat, der Verbrennungsstätte. Ich lief mit ihnen durch die Straßen. Ich lief mit ihnen unter der mit Girlanden geschmückten Last seines kleinen Körpers und rief die Namen Gottes. Und dann sah ich zu, wie sein Körper verbrannte. Der Schmerz streifte durch die Gassen des Slums, und ich konnte mich nicht länger bei den Freunden und Verwandten aufhalten, die um Prabaker trauerten. Sie standen unweit der Stelle, an der Prabaker nur Wochen zuvor seine Hochzeit gefeiert hatte. Von einigen Hütten hingen noch die Reste der bunten Girlanden. Ich sprach mit Qasim Ali, Johnny, Jeetendra und Kishan Mango, doch dann verabschiedete ich mich und fuhr nach Dongri. Ich hatte Fragen an Abdel Khader Khan, an den Meister; Fragen, die in meinem Inneren umherkrochen wie die Wesen in Hassan Obikwas Grube.
Das Haus bei der Nabila-Moschee lag reglos da und war mit schweren Schlössern gesichert. Niemand an der Moschee oder in den Geschäften konnte mir sagen, wann der Khan das Haus verlassen hatte oder wann er wiederkommen würde. Frustriert und aufgebracht fuhr ich zu Abdul Ghani. Sein Haus war zugänglich, aber seine Diener sagten mir, er mache außerhalb der Stadt Urlaub und werde erst in einigen Wochen zurückerwartet. Ich stattete der Werkstatt einen Besuch ab, wo Krishna und Villu fleißig an der Arbeit waren. Sie bestätigten mir, dass Ghani ihnen Aufträge und Geld für mehrere Wochen hinterlassen und ihnen gesagt habe, er mache Urlaub. Bei Khaled Ansaris Wohnung erfuhr ich von einem Wachmann, dass Khaled in Pakistan sei. Der Mann hatte offenbar keine Ahnung, wann der verschlossene Palästinenser zurückkehren würde.
Die anderen Mitglieder von Khaders Klan waren passenderweise ebenso plötzlich verreist. Farid hielt sich in Dubai auf, General Sobhan Mahmud in Kashmir. Als ich an Keki Dorabjees Tür klopfte, öffnete mir niemand, und an allen Fenstern
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