Shantaram
Mund und alles. Da ist nur noch ein großes Loch, und sein Hals ist offen. Sie haben nicht mal sein Gesicht bandagiert, weil so viele Schläuche und Röhren in diesem Loch stecken. Damit er lebt. Wie er überlebt hat, weiß keiner. Er saß zwei Stunden in dem Wrack fest. Die Ärzte meinen, er stirbt noch heute Nacht. Deshalb habe ich dich gesucht. Er hat schlimme Verletzungen, auch an der Brust und im Bauch. Er wird sterben, Lin. Er wird sterben. Wir müssen zu ihm gehen.«
Als wir die Station betraten, sahen wir Kishan und Rukhmabai an seinem Bett sitzen. Sie lagen sich in den Armen und weinten. Parvati, Sita, Jeetendra und Qasim Ali standen stumm am Fußende des Bettes. Prabaker lag im Koma. Eine Maschinenfront überwachte seine Lebensfunktionen. Schläuche und Röhren waren an seinem Gesicht befestigt – an dem Teil, der von seinem Gesicht geblieben war. Das breite Lächeln, dieses umwerfende sonnige Lächeln, war fortgerissen worden. Es war … einfach nicht mehr da.
In einem Dienstraum im Erdgeschoss fand ich den zuständigen Arzt. Ich zog ein Bündel Dollarscheine aus meinem Gürtel, hielt sie ihm hin und bat ihn, alle weiteren Kosten an mich weiterzuleiten. Er wollte das Geld nicht nehmen. Es bestehe keine Hoffnung mehr, sagte er. Prabaker hätte bestenfalls noch einige Stunden, vielleicht auch nur noch Minuten zu leben. Deshalb hätte er auch zugelassen, dass sich Familie und Freunde an seinem Bett versammelten. Man könne nichts mehr tun, sagte er, außer zu warten und ihm beim Sterben zuzusehen. Ich ging in Prabakers Zimmer zurück und gab Parvati das Geldbündel, mitsamt all meinen Einnahmen von meinem letzten Auftrag.
Dann suchte ich eine Toilette und wusch mir Hals und Gesicht mit kaltem Wasser. Als ich die Wunden in meinem Gesicht berührte, wirbelten mir Bilder von Abdullah durch den Kopf. Ich wollte sie nicht sehen. Ich wollte mir nicht vorstellen, wie mein wilder iranischer Freund von Polizisten umzingelt wurde, die seinen Körper mit Kugeln durchlöcherten. Ich starrte in den Spiegel und spürte das Brennen in den Augen, mit dem sich Tränen ankündigen. Ich schlug mir hart ins Gesicht und kehrte in Prabakers Zimmer zurück.
Mit den anderen stand ich drei Stunden lang am Fußende von Prabakers Bett, bis ich vor Erschöpfung einzunicken begann und mir eingestehen musste, dass ich nicht mehr wach bleiben konnte. In einer Ecke schob ich zwei Stühle zusammen und legte mich schlafen. Sofort wurde ich von einem Traum umfangen. Ich war in Sunder, trieb auf dem Raunen der Stimmen an jenem ersten Abend im Dorf, als Prabakers Vater mir die Hand auf die Schulter legte und ich unter dem Sternenhimmel mit zusammengebissenen Zähnen um Schlaf rang. Als ich aus dem Traum erwachte, saß Kishan tatsächlich neben mir, die Hand auf meiner Schulter, und als ich ihn ansah, brachen wir beide in haltloses Schluchzen aus.
Als es keinen Zweifel mehr gab, dass Prabaker sterben würde, als wir alle es wussten und uns nicht mehr dagegen wehrten, hielten wir vier Tage und Nächte Wache an seinem Bett, sahen seinen tapferen kleinen Körper leiden, Prabaker, der nicht mehr Prabaker war ohne sein Lächeln. Nachdem ich tagelang mit angesehen hatte, wie er Schmerz und Verwirrung erdulden musste, begann ich zu hoffen, dass er sterben würde, begann ich es von ganzem Herzen zu wünschen. Ich liebte ihn so sehr, dass ich mir schließlich eine stille Ecke in einer Putzkammer suchte, in der beständig Wasser aus einem Hahn in ein Betonbecken tropfte. Dort fiel ich an einer Stelle mit zwei nassen Fußabdrücken auf die Knie und flehte Gott an, Prabaker sterben zu lassen. Und er starb.
In der Hütte, in der Prabaker mit Parvati gelebt hatte, löste seine Mutter, Rukhmabai, ihr fast knielanges Haar. Sie saß im Eingang, mit dem Rücken zur Welt. Ihr schwarzes Haar war der Wasserfall der Nacht. Mit einer scharfen Schere schnitt sie es ab, dicht am Kopf, und es sank zu Boden wie ein sterbender Schatten.
Zu Anfang, wenn wir jemanden lieben, ist unsere größte Angst, dass unsere Liebe nicht erwidert wird. Was wir jedoch wirklich fürchten sollten, ist, dass wir nicht aufhören können zu lieben, auch wenn dieser Mensch tot und für immer verschwunden ist. Denn ich liebe dich noch immer von ganzem Herzen, Prabaker. Ich liebe dich noch immer. Und manchmal, mein Freund, schmettert mir die Liebe, die ich für dich in mir habe und die ich dir nicht geben kann, den Atem aus der Brust. Manchmal, noch heute, ertrinkt mein Herz in einer
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