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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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Stimme.
    »Es ist mein Ernst. Ich komme nicht mit. Ich bleibe hier. Ich gehe alleine. Oder ich bleibe hier. Es ist mir egal. Komm … mir … nur … nicht mehr … unter die Augen. Mir wird kotzübel von deinem Anblick!«
    Er rührte sich nicht, und der Drang, die Pistole aus dem Holster zu ziehen und ihn zu erschießen, war stark; so stark, dass mein Abscheu und mein Zorn mich schüttelten und mir schier den Atem nahmen.
    »Du sollst eines wissen«, sagte er schließlich, »was ich auch falsch gemacht habe: Ich habe es aus den richtigen Gründen getan. Ich habe dir nie mehr angetan, als ich glaubte, dir zumuten zu können. Und du solltest wissen, du musst wissen, dass ich immer wie für einen Freund für dich empfunden habe, wie für einen geliebten Sohn.«
    »Und du solltest wissen«, erwiderte ich, während mir Schnee auf Kopf und Schultern sank, »dass ich dich von ganzem Herzen hasse, Khader. Darauf ist deine ganze Weisheit ausgerichtet, nicht wahr? In den Menschen Hass zu erwecken. Du hast mich gefragt, was meine Mission ist. Die einzige Mission, die ich habe, ist meine Freiheit. Und im Moment bedeutet das, frei von dir zu sein, für immer.«
    Sein Gesicht war starr vor Kälte. Sein Bart war schneebedeckt, und ich konnte seine Miene nicht deuten. Doch seine goldenen Augen leuchteten auch im Schneetreiben, und in ihnen las ich noch immer den liebevollen Ausdruck. Dann wandte er sich ab und ging davon. Die anderen folgten ihm. Ich stand alleine im Schnee. Meine Hand auf dem Holster zitterte unkontrolliert. Ich löste die Sicherheitslasche, zog die Stechkin heraus und entsicherte sie, wie Khader es mir beigebracht hatte. Dann richtete ich sie auf den Boden.
    Die Minuten verstrichen – die Todesminuten, in denen ich Khader hätte nachlaufen und ihn töten können. Und mich selbst. Ich versuchte die Pistole fallen zu lassen, aber sie steckte in meinen halb erfrorenen Fingern fest. Ich versuchte sie mit der linken Hand wegzureißen, aber meine Finger waren so starr, dass ich es aufgab. Und, alleine in der wirbelnden Kuppel aus Schnee, die nun meine Welt war, hob ich die Arme dem weißen Regen entgegen, wie ich es einst im warmen Regen in Prabakers Dorf getan hatte.
    Als ich vor so vielen Jahren die Gefängnismauer bezwang, kam es mir vor, als habe ich eine Mauer am Rande der Welt erklettert. Als ich hinunterglitt in die Freiheit, verlor ich die ganze Welt, die mir vertraut war, und alle Liebe in ihr. In Bombay hatte ich mir, ohne es zu merken, eine neue Welt der Liebe erschaffen wollen, die der verlorenen glich und sie vielleicht sogar ersetzen konnte. Khader war mein Vater. Prabaker und Abdullah waren meine Brüder. Karla war meine Geliebte. Und dann, nach und nach, verlor ich auch sie. Und eine weitere Welt.
    Ein Gedanke stellte sich ein, so klar und kraftvoll wie die gesprochene Zeile eines Gedichts. Ich wusste, warum Khaled Ansari so entschlossen war, Habib zu helfen. Mir wurde plötzlich verständlich, was Khaled in Wirklichkeit tat. Er versucht sich selbst zu retten, sagte ich mehrmals. Meine Lippen, starr vor Kälte, zitterten, und ich hörte die Worte in meinem Kopf. Und als ich diese Worte hörte und dachte, wusste ich, dass ich Khader und Karla nicht hasste; dass ich sie nicht hassen konnte.
    Ich weiß nicht, warum mein Herz sich so abrupt und völlig anders entschied. Vielleicht war die Waffe in meiner Hand der Grund – ihre Macht, Leben zu nehmen oder es nicht zu tun – oder auch der Instinkt aus dem Innersten meines Wesens, der mich davon abhielt, sie zu benutzen. Vielleicht lag es auch daran, dass ich Khaderbhai verlor. Denn als er wegging von mir, wusste ich in meinem Blut – dem Blut, das ich in der dichten weißen Luft riechen konnte, dem Blut, das ich im Mund schmeckte –, dass es vorbei war. Was auch der Grund gewesen sein mag: Dieser Wandel fegte durch mich hindurch wie der Monsun durch den Stahlbasar und hinterließ keinerlei Spuren des wogenden mörderischen Hasses, den ich nur wenige Momente zuvor empfunden hatte.
    Ich war noch immer zornig, weil ich Khader die Liebe eines Sohnes geschenkt hatte und weil meine Seele, wider die Wünsche meines Verstands, um seine Liebe gebettelt hatte. Ich war zornig, weil er mich als verfügbar betrachtet und als Mittel für seine Zwecke benutzt hatte. Und ich war wütend, weil er mir die eine Sache im Leben weggenommen hatte – meine Arbeit als Slumdoktor –, die mich zumindest vor mir selbst mit all dem Schlechten hätte aussöhnen können, was ich

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