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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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schrien die Wachen an der südöstlichen Seite des Lagers, dass sich Männer näherten. Wir liefen hinüber und sahen einen verschwommenen Umriss, der aus zwei oder drei menschlichen Gestalten bestehen mochte und sich den steilen Abhang hinaufschleppte. Mehrere Männer griffen gleichzeitig nach ihren Ferngläsern und richteten sie auf den Hang. Ich machte einen Mann aus, der sich auf den Knien vorwärts schob und zwei liegende Gestalten hinter sich her zerrte. Nach einigen Minuten konnte ich die wuchtigen Schultern, die krummen Beine und die blaugraue Drillichkleidung erkennen. Ich reichte Khaled Ansari das Fernglas und schlitterte den Weg abwärts.
    »Es ist Nasir!«, schrie ich. »Ich glaube, es ist Nasir!«
    Ich war als Erster bei ihm. Nasir stemmte sich keuchend mit Kopf und Beinen in den Schnee und schob sich auf diese Weise mühsam vorwärts. Seine Hände waren in die Kleidung zweier Männer verkrallt, die er hinter sich herschleifte. Die beiden lagen auf dem Rücken. Es ließ sich schwer sagen, wie lange Nasir schon so unterwegs war, aber er war völlig entkräftet. Der Mann, den er mit der linken Hand festhielt, war Ahmed Zadeh. Er lebte, schien aber schwer verletzt zu sein. Der andere Mann war Abdel Khader Khan. Er war tot.
    Zu dritt bemühten wir uns, Nasirs Finger aus den Kleidern der beiden Männer zu lösen. Er war so entkräftet und ausgefroren, dass er nicht sprechen konnte. Sein Mund öffnete und schloss sich, doch er brachte nur ein langes unartikuliertes Krächzen hervor. Zwei Männer packten ihn an den Schultern und zogen ihn nach oben ins Lager. Ich riss Khaders Kleidung auf, weil ich hoffte, ihn wiederbeleben zu können, doch als ich seinen Körper berührte, fühlte er sich eiskalt, starr und hölzern an. Er war seit mehreren Stunden tot, vielleicht schon einen ganzen Tag. Seine Arme und Beine waren leicht gebeugt und seine Hände zu Klauen verkrümmt. Doch sein Gesicht wirkte unversehrt und gelöst unter dem dünnen Leichentuch aus Schnee. Seine Augen und sein Mund waren geschlossen, als schlummere er friedlich, und er wirkte so sanft im Tod, dass mein Herz nicht glauben wollte, was meine Augen sahen.
    Als Khaled Ansari mich an der Schulter rüttelte, kam ich zu mir. Obwohl mir bewusst war, dass ich nicht geschlafen hatte, fühlte es sich an, als hätte ich das alles nur geträumt. Ich kniete im Schnee und barg Khaders Kopf an meiner Brust, doch ich konnte mich nicht an diese Geste erinnern. Ahmed Zadeh war von den anderen Männern ins Lager geschleppt worden. Khaled, Mahmud und ich nahmen Khader hoch und trugen ihn in die große Höhle.
    Ich trat zu den drei Männern, die bei Ahmed Zadeh knieten. Die Kleider des Algeriers waren an der Brust blutgetränkt und gefroren. Wir schnitten sie behutsam auf, und als wir die zerfetzten blutenden Wunden erblickten, schlug Ahmed die Augen auf.
    »Ich bin verletzt …«, sagte er, zuerst auf Französisch, dann auf Arabisch und Englisch.
    »Ja, mein Freund«, erwiderte ich und sah ihn an. Ich bemühte mich um ein Lächeln, doch mein Gesicht fühlte sich taub und starr an und wirkte gewiss nicht tröstlich.
    Er hatte mindestens drei Wunden, doch das ließ sich nicht mehr genau bestimmen. Sein Unterleib war vermutlich von Granatsplittern aufgerissen worden. Ich vermutete, dass sich dieses Metallstück noch im Körper befand und an der Wirbelsäule festsaß. Am Bauch und am Oberschenkel hatte er weitere Wunden. Der Blutverlust war so stark, dass sich die Haut am Rand der Wunden kräuselte und bereits grau geworden war. Ich konnte nicht ermessen, was diese Verletzungen in seinem Magen und den anderen inneren Organen angerichtet hatten. Er roch stark nach Urin und Kot und anderen Flüssigkeiten aus dem Inneren des Körpers. Es war ein Wunder, dass er überhaupt so lange überlebt hatte. Vermutlich hatte die Kälte dafür gesorgt, doch nun lief seine Uhr ab. Er hatte bestenfalls noch Stunden, vielleicht auch nur noch Minuten zu leben. Und ich konnte nichts für ihn tun.
    »Ist es sehr schlimm?«
    »Ja, mein Freund«, antwortete ich, und ich konnte es nicht verhindern – meine Stimme brach, als ich das sagte. »Ich kann nichts mehr tun.«
    Heute wünsche ich mir, dass ich das nicht gesagt hätte. Auf der Liste der zahllosen Dinge, von denen ich mir wünsche, sie niemals in meinem verwerflichen Leben gesagt oder getan zu haben, steht dieser kleine Anfall von Ehrlichkeit unter den obersten. Mir war nicht bewusst, wie sehr Ahmed sich an die Hoffnung geklammert

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