Shantaram
?«
»Ja. Genau das hat sie getan. Und ich bin froh darüber.«
Die Kälte war nun überall in mir, sickerte durch meine Adern, und meine Augen waren aus Schnee. Khader ging weiter, doch als er merkte, dass ich stehen geblieben war, tat er es mir gleich. Er lächelte, als er sich zu mir wandte. In diesem Moment kam Khaled Ansari auf uns zu und klatschte lautstark in die Hände.
»Khader! Lin!«, begrüßte er uns mit dem kleinen schwermütigen Lächeln, das mir inzwischen so sehr ans Herz gewachsen war. »Ich habe mich entschieden. Ich habe es mir gut überlegt, wie du mir geraten hast, Khaderji, aber ich möchte noch hierbleiben. Wenigstens für eine Weile. Habib war letzte Nacht hier. Die Wachen haben ihn gesehen. Er hat in seinem Irrsinn so viele schreckliche Dinge getan – mit russischen Gefangenen und sogar mit afghanischen Gefangenen hier in der Nähe an der Straße nach Kandahar … grässliches Zeug … und ich bin nicht so leicht zu erschrecken, was das betrifft. Es ist alles so unheimlich, dass die Männer hier ihn nicht mehr davonkommen lassen. Sie werden ihn erschießen, sobald sie ihn zu Gesicht kriegen. Sie reden schon davon, ihn zu jagen wie ein gefährliches Tier. Ich muss … ich muss irgendwie versuchen, ihm zu helfen. Ich werde hierbleiben und versuchen, ihn zu finden, und dann will ich ihn überreden, mit mir nach Pakistan zu kommen. Also … zieht ihr ohne mich los, ich komme dann … in ein paar Wochen nach. Das … das wollte ich euch jetzt nur sagen.«
Nach seiner kleinen Rede trat ein eisiges Schweigen ein. Ich starrte Khader an, wartete seine Reaktion ab. Ich war wütend, und ich hatte Angst. Eine ganz besondere Form von Angst – jene Art von eisiger Furcht, die nur durch die Liebe verursacht wird. Khader erwiderte meinen Blick, bemüht, meine Miene zu deuten. Und Khaled blickte verwirrt und besorgt zwischen uns beiden hin und her.
»Und der Abend, an dem ich dich und Abdullah kennen gelernt habe?«, fragte ich. Ich biss die Zähne zusammen, um das Zittern zu unterdrücken, das die Kälte und diese eisige Furcht auslösten.
»Du vergisst«, sagte Khader, etwas strenger. Seine Miene hatte sich verfinstert, und er sah nun ebenso entschieden aus wie ich. Ich kam damals nicht auf den Gedanken, dass auch er sich betrogen und verraten fühlte. Ich dachte nicht mehr an Karachi und die Polizeirazzia. Ich dachte nicht daran, dass es in Khaders eigenen Reihen einen Verräter gab, jemanden, der ihm nahestand und der ihn, mich und den Rest unserer Truppe in Gefangenschaft oder tot sehen wollte. Ich deutete Khaders strenge und kühle Miene nur als grausame Missachtung meiner Gefühle. »Du vergisst, dass du Abdullah schon kanntest an dem Abend, an dem wir uns zum ersten Mal begegneten. Du hast ihn doch im Tempel der Stehenden Babas kennen gelernt, nicht wahr? Er war an diesem Abend dort, um Karla zu beschützen. Sie kannte dich noch nicht gut. Sie wusste nicht, ob sie dir vertrauen konnte an einem fremden Ort. Sie wollte jemandem im Hintergrund wissen, der ihr helfen konnte, für den Fall, dass du nichts Gutes im Sinn hattest.«
»Er war ihr Bodyguard …«, murmelte ich und dachte: Sie hat mir nicht vertraut …
»Ja, Lin, und er war ein guter Bodyguard. Wie ich gehört habe, gab es an diesem Abend einen bedrohlichen Vorfall, und Abdullah hat etwas getan, um sie zu schützen – und vielleicht auch dich. War es nicht so? Das war Abdullahs Aufgabe, meine Leute zu beschützen. Deshalb habe ich ihn auch beauftragt, dir zu folgen, als mein Neffe Tariq bei dir im Zhopadpatti lebte. Und am ersten Abend hat er dir geholfen, gegen die wilden Hunde zu kämpfen, nicht wahr? Und während Tariq bei dir wohnte, war Abdullah immer in eurer Nähe, wie ich es ihm aufgetragen hatte.«
Ich hörte ihm nicht mehr zu. Wütende Pfeile schossen durch meinen Kopf, zurück in eine andere Zeit, zu anderen Orten. Ich suchte nach Karla – der Karla, die ich kannte und liebte –, doch jeder Augenblick begann, sein Geheimnis und seine Lüge zu offenbaren. Ich erinnerte mich an unsere erste Begegnung, die erste Sekunde, als sie mich davon abhielt, vor den Bus zu geraten. Das war in der Arthur Road, am Fußweg, nicht weit entfernt vom India Guest House, mitten in der Touristengegend. Wartete sie da, auf der Jagd nach Ausländern wie mir? Hielt sie nach brauchbaren Rekruten Ausschau, die für Khader arbeiten konnten? Ja, so war es. Ich hatte mich ganz ähnlich verhalten, zu der Zeit, als ich im Slum lebte. Ich hatte in
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