Shantaram
getan hatte. Sogar dieses winzige Gute hatte er besudelt und entwertet. Die Wut in mir war so hart und schwer wie ein Basaltklumpen, und ich wusste, dass es Jahre dauern würde, bis er sich auflöste – doch ich konnte die beiden nicht hassen.
Sie hatten mich belogen und betrogen und dort zerklüftete Abgründe hinterlassen, wo mein Vertrauen gewesen war, und ich mochte, achtete oder bewunderte sie nicht mehr. Aber ich liebte sie noch immer. Ich hatte keine andere Wahl. Das wurde mir vollkommen bewusst, als ich in dieser weißen Wildnis aus Schnee stand. Man kann Liebe nicht töten. Man kann sie nicht einmal mit Hass töten. Man kann Verliebtheit töten und den Akt der Liebe und sogar den Liebreiz. Das alles kann man töten oder betäuben, bis nur bleiern lastendes Bedauern bleibt. Doch die Liebe selbst kann man nicht töten. Liebe ist die leidenschaftliche Suche nach einer anderen Wahrheit als unserer eigenen; und wenn man sie einmal erlebt, ehrlich und vollkommen, ist sie ewig. Jeder Moment der Liebe, jeder Augenblick, in dem das Herz an ein anderes rührt, ist Teil des kosmischen Guten, ist ein Teil von Gott oder was wir Gott nennen und kann niemals sterben.
Später, als der Schneesturm sich legte, stand ich ein Stück entfernt von Khaled und sah zu, wie Khaderbhai, Nasir und ihre Männer mit den Pferden aufbrachen. Der große Khan, der Mafia-Don, mein Vater, saß aufrecht im Sattel, die aufgerollte Standarte in der Hand. Und er wandte sich nicht mehr um.
Meine Entscheidung, mich von Khaderbhai zu trennen und bei Khaled und den Kämpfern im Lager zu bleiben, erhöhte die Gefahr für mich. Ohne den Khan war ich wesentlich angreifbarer als in seiner Nähe. Als ich ihm nachsah, machte ich mir bewusst, dass ich Pakistan vielleicht nie erreichen würde. Ich sprach diese Worte sogar vor mich hin: Ich werde es nicht schaffen … ich werde es nicht schaffen …
Doch in mir war keine Angst, als Lord Abdel Khader Khan in der Helle des alles Licht verschlingenden Schnees verschwand. Ich nahm mein Schicksal an und hieß es sogar willkommen. So wird mir zuletzt doch noch widerfahren, was ich verdient habe, dachte ich, und mit diesem Gedanken fühlte ich mich rein und klar. Was ich jedoch fühlte, war die Hoffnung, dass Khader überleben würde. Es war aus und vorbei, und ich wollte ihn nie mehr im Leben zu Gesicht bekommen; doch als ich ihn in dieses Tal der weißen Schatten reiten sah, hoffte ich, dass er am Leben bleiben würde. Ich betete darum, dass er behütet würde. Ich betete mein gebrochenes Herz in ihn, und ich liebte ihn. Ich liebte ihn.
F ÜNFUNDDREISSIGSTES K APITEL
P rofitgier und Prinzipien bewegen Männer dazu, Kriege zu beginnen, doch gekämpft wird um Land und um Frauen. Früher oder später versinken die anderen Gründe und Motive im Blut und werden bedeutungslos. Früher oder später vernebeln Tod und Überleben die Sinne. Früher oder später ist Überleben die letzte Logik und Sterben die einzige Stimme und Vision. Dann, wenn die besten Freunde schreiend verenden und gute Männer, rasend vor Zorn und Schmerz, in den blutigen Gruben dem Wahnsinn anheimfallen, wenn alle Gerechtigkeit und Schönheit der Welt mit Armen und Beinen und Köpfen von Brüdern und Söhnen und Vätern zerschossen wird, ist das Einzige, was Männer dazu bringt, weiter zu kämpfen und zu sterben und weiter zu sterben, jahraus, jahrein, ihr Wille, das Land zu beschützen und die Frauen.
Wenn man ihnen zuhört in den Stunden, bevor sie in den Kampf ziehen, weiß man, dass es so ist. Sie sprechen über ihr Zuhause und die Frauen, die sie lieben. Und man weiß, dass es so ist, wenn man sie sterben sieht. Wenn ein sterbender Mann in seinen letzten Momenten dem Erdboden nahe ist, greift er danach und packt eine Handvoll Erde. Wenn er kann, hebt er den Kopf, um auf den Berg, das Tal, die Ebene zu blicken. Wenn er weit weg ist von zu Hause, wird er daran denken und davon sprechen. Er wird über sein Dorf oder seinen Geburtsort oder die Großstadt sprechen, in der er aufgewachsen ist. Am Ende zählt nur das Land. Und im letzten Augenblick wird er keine Parolen schreien. Im letzten Augenblick wird er den Namen einer Schwester, einer Tochter, einer Liebsten oder einer Mutter murmeln oder schreien, auch wenn er den Namen Gottes erwähnt. Das Ende spiegelt den Anfang. Am Ende geht es um eine Frau und eine Stadt.
Drei Tage nachdem Khaderbhai das Lager verlassen hatte, drei Tage nachdem er im weichen pulvrigen Schnee davongeritten war,
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