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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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hatte, gerettet zu werden. Als ich diese Worte aussprach, sah ich, wie er hinterrücks in den schwarzen Teich stürzte. Jegliche Farbe wich aus seiner Haut, und der Rest Anspannung, mit der er seinen Körper wach gehalten hatte, entlud sich in Zuckungen, vom Kiefer bis zu den Knien. Ich hätte ihm gerne eine Morphiumspritze gegeben, doch ich wusste, dass ich ihn sterben sah, und es gelang mir nicht, meine Hand von seiner zu lösen.
    Seine Augen wurden klar, und er blickte um sich auf die Wände der Höhle, als sehe er sie zum ersten Mal. Mahmud und Khaled knieten auf der einen Seite, ich auf der anderen. Er blickte in unsere Gesichter, und die Augen traten ihm fast aus den Höhlen vor Angst. In seinem Blick lag das verzweifelte Entsetzen eines Menschen, der weiß, dass er vom Schicksal im Stich gelassen wird, dass der Tod schon Einzug gehalten hat und sich in ihm streckt und dehnt und den Raum einnimmt, in dem einst das Leben wohnte. Dieser Blick würde mir in den folgenden Wochen und in den Jahren danach noch allzu vertraut werden. Doch an diesem Tag erlebte ich ihn zum ersten Mal, und ein Grauen überfiel mich, das dem seinen wohl ähnlich war.
    »Wir hätten Esel nehmen sollen«, krächzte er.
    »Was?«
    »Khader hätte Esel nehmen sollen. Ich habe es von Anfang an gesagt. Du hast es gehört. Ihr habt es alle gehört.«
    »Ja, mein Freund.«
    »Esel … für diesen Einsatz. Ich bin in den Bergen groß geworden. Ich kenne die Berge.«
    »Ja«, sagte ich erneut, weil ich nichts anderes zu erwidern wusste.
    »Aber er war zu stolz, Khader Khan. Er wollte … den Moment fühlen … als Held zurückkehren … zu seinem Volk. Er wollte ihnen … Pferde bringen, viele schöne Pferde.«
    Er unterbrach sich, geschüttelt von einem grunzenden Keuchen, das in seinem verletzten Bauch begann, nach oben wanderte und seine Brust erbeben ließ. Ein dunkles Rinnsal, Blut und Galle, tropfte ihm aus der Nase und dem Mundwinkel. Er schien es nicht zu bemerken.
    »Nur deshalb … sind wir den Umweg nach Pakistan gegangen. Nur deshalb … um seinem Volk diese Pferde zu bringen … sind wir in den Tod gezogen.«
    Er stöhnte vor Schmerzen und schloss die Augen, riss sie jedoch sofort wieder auf.
    »Ohne die Pferde … wären wir nach Osten gezogen, zur Grenze … direkt zur Grenze. Es ist alles nur … wegen seines Stolzes geschehen, versteht ihr?«
    Ich sah Khaled und Mahmud an. Khaled begegnete meinem Blick, schaute jedoch sofort wieder auf seinen sterbenden Freund. Mahmud und ich starrten uns einen Moment an, dann nickten wir beide ein wenig. Ein Beobachter hätte diese kleine Geste vielleicht nicht bemerkt, doch wir beide wussten, was wir uns damit bestätigt hatten. Ahmed sprach die Wahrheit. Stolz hatte den großen Mann zu Fall gebracht. Und, so merkwürdig es auch scheinen mag: Erst in diesem Augenblick, als ich den Stolz in seinem Ende sah, begann ich zu begreifen, dass Khaderbhai nicht mehr bei uns war, und ich spürte die dunkle Leere, die sein Tod hinterließ.
    Ahmed sprach noch eine Weile. Er sagte uns den Namen seines Dorfes und gab uns Anweisung, wie wir es von der nächsten größeren Stadt aus finden konnten. Er erzählte von seinem Vater und seiner Mutter, seinen Schwestern und Brüdern. Er wollte uns wissen lassen, dass er an sie gedacht hatte, als er starb. Und das tat er wirklich, dieser mutige lachende Algerier, der immer aussah, als halte er in einer Menschenmenge nach einem Freund Ausschau; er starb mit der Liebe zu seiner Mutter auf den Lippen. Und sein letzter Atemzug trug den Namen Gottes in sich.
    Wir froren, waren durchgefroren bis auf die Knochen, während wir reglos neben dem sterbenden Ahmed knieten. Andere Männer übernahmen es nun, seinen Körper für die muslimische Bestattung vorzubereiten. Khaled, Mahmud und ich sahen nach Nasir. Er war nicht verletzt, aber so komplett entkräftet, dass sein Schlaf fast einem Koma glich. Sein Mund stand offen, und seine Augen waren nicht ganz geschlossen. Doch seine Haut war warm, und er schien sich von der Strapaze zu erholen. Wir wandten uns der Leiche unseres toten Khan zu.
    Eine einzige Kugel war unterhalb der Rippen in seinen Körper eingedrungen und offenbar direkt im Herz gelandet. Es gab keine Austrittswunde, aber er hatte extreme Blutergüsse auf der linken Brusthälfte. Für das russische AK-74 wurden in jenen Jahren Hohlspitzgeschosse benutzt. Das Gewicht des Stahlkerns war in diesen Geschossen nach hinten verlagert, sodass sie ins Taumeln gerieten und den

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