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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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genug am Leben zu bleiben, um ihn auszuführen. Das hielt ihn aufrecht, diese einsame Obsession, zu der sein Leben nun zusammengeschrumpft war. Da ich damals nichts davon wusste, machte ich mir in den kalten Tagen und den noch kälteren Wochen nach Khaders Begräbnis unentwegt Sorgen um die geistige Gesundheit des tapferen treuen Afghanen.
    Khaled Ansari veränderte sich durch Khaders Tod ebenso nachhaltig, wenn auch weniger offensichtlich. Viele von uns waren so verstört, dass sie nur noch dumpf ihre Pflichten erledigten. Khaled jedoch wurde lebhafter und wacher. Während ich mich oft in schwermütigen bittersüßen Gedanken an den Mann verlor, den wir geliebt und verloren hatten, übernahm Khaled tagtäglich neue Aufgaben und verlor niemals den Überblick. Als Veteran mehrerer Kriege trat er Khaderbhais Nachfolge als Berater des Mudjahedin-Kommandeurs Suleiman Shahbadi an. Bei all seinen Überlegungen zeigte sich der Palästinenser achtsam, unermüdlich und besonnen. Diese Eigenschaften waren nicht neu an ihm – er war schon immer ein ernsthafter und leidenschaftlicher Mann gewesen –, doch nach Khaders Tod strahlte er etwas Hoffnungsvolles und einen Siegeswillen aus, wie ich ihn noch nie bei ihm erlebt hatte. Und er betete. Von dem Tag an, als wir den Khan begruben, war Khaled der Erste, der die Männer zum Gebet rief, und der Letzte, der die Knie vom kalten Stein löste.
    Suleiman Shahbadi, der älteste Afghane in unserer Gruppe – wir waren noch zwanzig Mann, die Verwundeten eingeschlossen –, ein ehemaliger Stammesführer oder kandeedar aus einer Region mit mehreren Dörfern unweit von Ghazni auf der Strecke nach Kabul, war zweiundfünfzig Jahre alt und nahm seit fünf Jahren an diesem Krieg teil. Er hatte Erfahrung mit sämtlichen Kampfformen von Belagerung über Guerillataktik bis Feldschlacht. Ahmed Shah Massud, der inoffizielle Anführer des Widerstands, hatte Suleiman persönlich dazu ernannt, die südlichen Stellungen bei Kandahar zu befehligen. Alle Männer in unserer ethnisch stark gemischten Gruppe empfanden solche Bewunderung und Verehrung für Massud, dass man durchaus von Liebe sprechen konnte. Und weil Suleimans Ernennung direkt durch Massud, den Löwen vom Panshir, erfolgt war, begegneten die Männer ihm mit ebensolcher Achtung.
    Als Nasir drei Tage nachdem wir ihn im Schnee gefunden hatten, kräftig genug war, um einen vollständigen Bericht abzugeben, berief Suleiman Shahbadi ein Treffen ein. Er war ein kleiner Mann mit großen Händen und Füßen und schwermütiger Miene. Seine breite hohe Stirn durchpflügten sieben tiefe Furchen, und ein schlangenartig gewundener weißer Turban bedeckte seinen kahlen Schädel. Sein dunkelgrauer Bart war über der Lippe und unter dem Kinn kurz geschnitten. Seine Ohren, die etwas spitz waren – was durch den weißen Turban noch betont wurde –, verliehen ihm ein leicht koboldhaftes Aussehen, und auch sein breiter Mund ließ darauf schließen, dass er vielleicht früher einmal über einen spitzbübischen Humor verfügt hatte. Doch damals, in den Bergen, lag eine unsagbare Traurigkeit in seinen Augen; eine verwitterte Traurigkeit bar jeder Tränen. Diese Ausstrahlung erweckte unser Mitleid, hielt uns jedoch davon ab, uns mit Suleiman anzufreunden. Er war ein weiser, mutiger und gütiger Mann, doch diese Traurigkeit saß so tief in seinem Inneren, dass kein Mann es wagte, damit in Berührung zu kommen.
    Vier Mann hielten Wache, zwei waren verwundet; die restlichen vierzehn versammelten sich in der Höhle, um Suleimans Worte anzuhören. Es war extrem kalt – die Temperatur lag um den Gefrierpunkt –, und wir setzten uns dicht nebeneinander, um uns Wärme zu spenden.
    Ich wünschte mir, dass ich während des langen Aufenthalts in Quetta fleißiger Dari und Paschto gelernt hätte. Bei diesem und allen anderen weiteren Treffen sprachen die Männer in beiden Sprachen. Mahmud Melbaaf übersetzte das Dari für Khaled ins Arabische, der es wiederum für mich ins Englische übertrug. Dabei beugte er sich erst nach links, um Mahmud zu lauschen, dann nach rechts, um mir die Worte zuzuflüstern. Es war ein langwieriger zeitraubender Prozess, und ich war erstaunt und fast gerührt, dass die Männer immer wieder geduldig warteten, bis die Übersetzung für mich erfolgt war. Die in Europa und Amerika populäre Karikatur des Afghanen als eines blutrünstigen Mannes – die sämtliche Afghanen endlos erheiterte, wenn man ihnen davon erzählte –, wurde bei jedem Erlebnis

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