Shantaram
Fuß an einer Stelle durch den Boden, und durch meine abrupte Reaktion verlor ich das Gleichgewicht und stürzte nach hinten durch eine Wand. Wild mit den Armen rudernd, um irgendwo Halt zu finden, landete ich viel schneller als erwartet auf festem Untergrund, und mir wurde sofort bewusst, dass ich unversehens in einen von Madame Zhous Geheimgängen geraten war. Die Wand war mit derselben Tapete dekoriert wie der Rest des Hauses, hatte jedoch nur aus dünnem Sperrholz bestanden.
Ich rappelte mich auf, staubte mich ab und stellte fest, dass ich mich in einem schmalen, niedrigen Gang befand, der sich an sämtlichen Wänden und Ecken der Zimmer entlangwand. In diese Wände waren Metallgitter eingelassen, einige in Bodennähe, andere weiter oben. Unterhalb der höheren Gitter waren Stufen angebracht. Ich stieg auf die niedrigste Stufe und spähte durch die herzförmigen Lücken in dem Gitter. Aus dieser Perspektive konnte ich tatsächlich das gesamte Zimmer überblicken, sah den gesprungenen Spiegel an der Wand, die verkohlten Überreste eines Bettes, den rostigen Nachttisch daneben. Ich stellte mir vor, wie Madame Zhou auf der obersten Stufe gestanden und leise atmend das Geschehen in diesem Zimmer beobachtet hatte.
Der Gang änderte mehrmals die Richtung, und ich verlor in der Dunkelheit die Orientierung, wusste nicht mehr, ob ich mich näher bei der Vorder- oder der Rückseite des Hauses befand. Dann stieg der Gang plötzlich steil an. Ich folgte ihm, bis auch die höchsten Metallgitter neben mir verschwanden, und stolperte über eine Treppe. Vorsichtig tastete ich mich nach oben, bis ich auf eine Tür stieß – eine schmale, edel getäfelte Tür, die so zierlich wirkte, als sei sie für ein Puppenhaus geschaffen worden. Ich drehte den Knauf, die Tür gab nach, und ich schrak zurück, weil mir plötzlich Licht entgegenschlug.
Als ich mich vorwagte, trat ich in ein Dachzimmer mit vier spitz zulaufenden Buntglasfenstern, durch die man auf weitere Dachflächen blicken konnte. Das Feuer war bis in diesen Raum vorgedrungen, hatte ihn jedoch nicht zerstört. Die Wände waren gezeichnet von schwarzen Flammenschatten, und der Fußboden wies einige Löcher auf, durch die man auf den Zwischenboden schaute. Doch einige Teile des lang gestreckten Zimmers waren von den Flammen gänzlich unberührt geblieben. Auf diesen Inseln mit exotisch gemusterten Teppichen und jungfräulicher Tapete standen prächtige Möbel. Und auf einem thronartigen Stuhl saß mit verzerrter Miene und starrem Blick Madame Zhou.
Als ich vorsichtig näher trat, merkte ich, dass der bösartige Blick nicht auf mich gerichtet war. Sie starrte hasserfüllt auf irgendeinen Punkt in ihrer Vergangenheit, einen Ort, einen Vorfall oder einen Menschen, der ihren Geist so gnadenlos gefangen hielt wie eine Kette einen Tanzbären. Ihr Gesicht war mit Schminke zugekleistert – eine Maske, die so übertrieben war, dass sie eher tragisch als grotesk wirkte. Der Mund war größer geschminkt, die aufgemalten Augenbrauen waren breiter als die echten. Das Rouge auf den Wangen saß höher als die Wangenknochen, und als ich näher kam, sah ich, dass eine Flüssigkeit aus Madame Zhous Mundwinkel in ihren Schoß tropfte. Sie war umgeben von einer Alkoholwolke, dem Geruch von unverdünntem Gin, der sich mit anderen ekelhaft faulen Gerüchen vermischte. Auf ihrem Kopf saß eine schwarze Perücke, die leicht verrutscht war, sodass ihr kurzes schütteres graues Haar am Rand zum Vorschein kam. Sie trug ein grünes Cheongsam, das ihr bis zum Kinn reichte, und hatte die Beine übereinanderschlagen. Ihre Füße – kaum größer als Kinderfüße – steckten in weichen Seidenpantoffeln und ruhten auf der Sitzfläche eines Sessels vor ihr. Die Hände, so schlaff und ausdruckslos wie ihr halb offener Mund, lagen in ihrem Schoß wie leblose Dinge, die an einen einsamen Strand gespült wurden.
Ihr Alter und ihre Herkunft waren unbestimmbar. Sie mochte Spanierin oder Russin sein, indisches, chinesisches oder sogar griechisches Blut haben. Und Karla hatte recht – Madame Zhou war einst eine schöne Frau gewesen. Sie hatte jene Art von Schönheit besessen, die aus der Summe aller Teile und nicht aus einem einzigen markanten Zug entsteht – eine Schönheit, die das Auge mehr anspricht als die Seele und die schal wird, wenn sie nicht von innerer Güte genährt wird. In diesem Augenblick war sie nicht mehr schön. Sie sah abscheulich aus. Und Didier hatte auch recht: Sie war gebrochen,
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