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Shantaram

Shantaram

Titel: Shantaram Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gregory David Roberts
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erledigt. Sie trieb auf dem schwarzen Teich, und bald würde das Wasser sie in die Tiefe ziehen. Wo ihr Geist gewohnt hatte, herrschte nun reglose Stille, und wo ihr grausames niederträchtiges Leben regiert hatte, war nur noch ein leeres gefühlloses Nichts.
    Als ich da stand, unbemerkt von ihr, stellte ich erstaunt und verwirrt fest, dass ich keine Wut oder Rachsucht empfand, sondern Scham. Ich schämte mich, weil mein Herz von Rachsucht erfüllt gewesen war. Der Teil von mir, der sich gewünscht hatte – Was denn? Sie wahrhaftig zu töten? –, war wie sie. Ich betrachtete sie, und ich wusste, dass ich mich selbst sah, meine Zukunft und mein Schicksal, wenn es mir nicht gelang, mein Herz von seinen Rachegelüsten zu befreien.
    Und mir war auch bewusst, dass die Rachepläne, die ich während den Wochen meiner Genesung in Pakistan gehegt hatte, nicht nur ihr galten. Sie zielten auf mich selbst ab, auf eine Schuld, der ich mich erst in jenem Augenblick der Scham stellen konnte, als ich Madame Zhou betrachtete. Die Schuld, die ich mir an Khaders Tod gab. Ich war sein Amerikaner gewesen – sein Schutz gegen Warlords und Räuber. Wäre ich bei ihm gewesen, so wie es vorgesehen war, als er die Pferde zu seinem Dorf bringen wollte, hätten die Feinde vielleicht nicht auf ihn geschossen.
    Diese Empfindung war unsinnig und erfasste, wie häufig bei Schuldgefühlen, nur das halbe Bild. Einige der Toten, die in Khaders Nähe gefunden wurden, hatten russische Uniformen getragen und russische Waffen bei sich gehabt – das hatte Nasir mir berichtet. Wäre ich an Khaders Seite gewesen, hätte es vermutlich rein gar nichts geändert. Sie hätten mich gefangen genommen oder getötet, und Khader wäre dennoch umgekommen. Doch der Verstand spielte keine große Rolle bei den Schuldgefühlen, die sich in mein Herz bohrten in jenem Augenblick, als ich Khaders Gesicht unter dem weißen Leichentuch aus Schnee erblickte. Danach gelang es mir nicht mehr, die Scham abzuschütteln. Und diese Scham und die zehrende Trauer hatten mich verändert. Ich spürte, wie der Stein der Rache, den ich werfen wollte, meiner Hand entglitt. Ich fühlte mich leicht, als sei ich von Licht erfüllt und würde schweben. Und ich fühlte mich frei – so frei, dass ich Mitgefühl für Madame Zhou empfinden und ihr sogar vergeben konnte. In diesem Moment hörte ich den Schrei.
    Es war ein markerschütternder Schrei, schrill wie der eines wilden Schweins. Ich fuhr herum und sah Rajan, Madame Zhous Eunuchendiener, auf mich zurennen. Als er auf mich prallte, stolperte ich rückwärts, und wir brachen gemeinsam durch eines der Dachfenster. Hinterrücks aus dem Fenster gebeugt, sah ich über mir den blauen Himmel und die irren Augen des Eunuchen. Und spürte, wie mir von den Schnitten der Glasscherben Blut vom Kopf tropfte. Glassplitter lösten sich vom Rahmen, und ich drehte den Kopf hin und her, um meine Augen zu schützen, während wir miteinander rangen. Rajan umklammerte mich und schien wie besessen auf der Stelle zu laufen. Es dauerte einen Moment, bis ich verstanden hatte, dass er versuchte, mich aus dem Fenster zu stoßen – uns beide. Und es schien ihm zu gelingen, denn ich spürte, wie meine Füße vom Boden abhoben und wie ich weiter vom Fensterbrett glitt.
    Grollend vor Wut hielt ich mich am Fensterrahmen fest und stieß uns mit einer gewaltigen Kraftanstrengung ins Zimmer zurück. Rajan fiel auf den Rücken, rappelte sich jedoch blitzschnell wieder auf und raste mit einem schrillen Schrei erneut auf mich zu. Ich konnte nicht ausweichen, und er stürzte sich auf mich. Seine Hände schlossen sich um meinen Hals, und ich tastete mit der linken Hand nach seinem Auge. Er hatte lange scharfe Fingernägel, die sich in meine Haut bohrten, was so schmerzhaft war, dass ich laut aufschrie. Mit der linken Hand bekam ich sein Ohr zu fassen und zog damit sein Gesicht nahe genug heran, um es mit der Faust so lange zu bearbeiten, bis es ihm gelang, sich loszureißen, wobei er allerdings sein halbes Ohr einbüßte.
    Keuchend stand er da und stierte mich hasserfüllt an. Sein Gesicht war blutverschmiert. Ein abgebrochener Zahn hatte seine Lippe gespalten, an einer abrasierten Augenbraue war die Haut aufgeplatzt. Sein kahler Schädel wies mehrere Schnitte auf, und das Blut rann ihm in die Augen. Ich ging davon aus, dass seine Nase gebrochen war. Er war reif zum Aufgeben. Doch das tat er nicht.
    Er stieß wieder diesen entsetzlichen kreischenden Schrei aus und attackierte

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