Shantaram
verstehen. Die Trauer, die ich gemieden hatte, war erst nach so langer Zeit über mich gekommen, weil ich ihn nicht loslassen konnte. In meinem Herzen umschlang ich Khaderbhai so fest wie ich erst wenige Minuten zuvor Abdullah umarmt hatte. In meinem Herzen war ich noch immer dort im Gebirge, kniete im Schnee und hielt seinen schönen Kopf umfasst.
Als nach und nach die Sterne am stillen ewig weiten Himmel erschienen, durchtrennte ich das letzte Ankerseil der Trauer und gab mich der allumfassenden Flut des Schicksals hin. Ich ließ ihn los. Ich sprach die Worte, die heiligen Worte: Ich vergebe dir …
Und es war gut. Und es war richtig. Ich ließ die Tränen frei. Ich ließ mein Herz brechen über der Liebe zu meinem Vater, so wie die wilden Wellen unter mir sich an der Mauer brachen und ihr Blut über den weißen Weg ergossen.
V IERZIGSTES K APITEL
D as Wort »Mafia« stammt vom sizilianischen Wort für »Prahlen« ab. Man kann jeden ernstzunehmenden Mann fragen, der seinen Lebensunterhalt mit Verbrechen bestreitet: Er wird bestätigen, dass genau dieses – das Prahlen und der Stolz – am Ende die Meisten den Kopf kostet. Aber das lernen wir wohl nie. Vielleicht ist es nicht möglich, Verbrechen zu begehen, ohne sich damit zu brüsten. Vielleicht ist es nicht möglich, als Geächteter zu leben, ohne stolz zu sein. In jenen letzten Monaten der alten Mafia jedenfalls, der Bruderschaft, die Khaderbhai begründet, geformt und gelenkt hatte, gab es jede Menge Prahlerei und nicht weniger Stolz. Doch damals war es in dieser Ecke von Bombays Unterwelt auch zum letzten Mal möglich, aufrichtig stolz zu sein, weil man ein Gangster war.
Khader Khan war seit beinahe zwei Jahren tot, aber der Mafia-Klan, den er begründet hatte, wurde noch immer gemäß seiner Regeln und Prinzipien geführt. Khader hasste Heroin und hatte sich strikt geweigert, damit zu handeln. Und in seinen Gebieten war es lediglich hoffnungslos süchtigen Junkies gestattet gewesen, die Droge zu erwerben. Die Prostitution hatte er gleichermaßen verabscheut; er hatte sie als ein Gewerbe betrachtet, das Frauen verletzte, Männer verdarb und den Verfall jeder Gemeinschaft bewirkte, in der es geduldet wurde. Sein Einflussbereich hatte Straßen, Parks und Gebäude im Umkreis von einigen Quadratkilometern umfasst. Innerhalb dieses kleinen Reiches mussten Männer wie Frauen, die sich im Bereich der Prostitution oder Pornografie betätigten und dies nicht extrem verdeckt taten, mit entsprechender Bestrafung rechnen. Und so blieb es auch unter der Leitung des neuen Rates, in dem Salman Mustaan den Vorsitz innehatte.
Der alte Sobhan Mahmud galt zwar offiziell noch immer als Vorsitzender des Rates, war jedoch schwer krank. In den Jahren seit Khaders Tod hatte er zwei Schlaganfälle erlitten, die seine Sprechfähigkeit und seine Beweglichkeit stark beeinträchtigten. Der Klan brachte ihn in Khaders Strandhaus in Versova unter – in jenem Haus, in dem ich unter Nasirs Aufsicht den Entzug durchgemacht hatte. Man achtete darauf, dass der alte Don die beste ärztliche Behandlung bekam und von seinen Familienangehörigen und Dienern gut versorgt wurde.
Nasir nahm sich des jungen Tariq an, Khaders Neffen, und bildete ihn – wie die Meisten im Rat vermuteten – behutsam für die Rolle des künftigen Vorsitzenden aus. Tariq war zwar außergewöhnlich reif, gewandt und ernsthaft für sein Alter – es gab niemanden, der mich mit seiner leidenschaftlichen, strikten Art mehr an Khaled erinnerte –, aber deutlich zu jung für einen Sitz im Rat oder auch für die Teilnahme an den Versammlungen. Nasir versah ihn stattdessen mit Aufgaben und Pflichten, die ihn allmählich mit der Welt vertraut machten, für die er eines Tages Verantwortung tragen würde. Salman Mustaan war in jeder Hinsicht der Don, der neue Khan, der Vorsitzende des Rats und der Anführer von Khaders Mafia-Klan. Und Salman, wie jeder bezeugen konnte, der ihn kannte, war mit Leib und Seele ein Mann Khaderbhais. Er leitete die Aktivitäten des Klans, als sei der grauhaarige Herrscher noch am Leben und berate ihn allabendlich in geheimen Unterredungen.
Die meisten der Männer unterstützten Salman bedingungslos. Sie verstanden die Regeln und Prinzipien und waren der Ansicht, dass sie es wert waren, erhalten zu werden. In unserem Teil der Stadt galten die Begriffe Goonda und Gangster nicht als Schimpfwörter. Den Leuten, die hier lebten, war bewusst, dass es unserem Klan besser als der Polizei gelang,
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