Shantaram
Fehler. Er rannte in eine schmale Gasse, die von Obdachlosen und Familien bewohnt wurde, die man ihrer Wohnungen verwiesen hatte. Ich kannte mich in dieser Gasse gut aus. Etwa hundert Männer, Frauen und Kinder lebten hier. Sie schliefen umschichtig auf einer erhöhten Plattform, die sie zwischen zwei Häusern gebaut hatten. Alles andere fand in der langen, dunklen, schmalen Gasse statt. Modena drängte sich zwischen den vielen sitzenden und stehenden Gruppen hindurch; zwischen Kochern, Duschverschlägen und Kartenspielern. Dann, am Ende der Gasse, die für diese Menschen zum Lebensraum geworden war, bog er nach links anstatt nach rechts ab und landete in einer Sackgasse, die von hohen nackten Wänden umgeben war. Hier war es stockfinster. Wir hatten diese Stelle manchmal für Deals mit Drogenhändlern benutzt, denen wir nicht über den Weg trauten, weil es nur einen Ausgang gab. Ich bog kurz nach Modena um die Ecke, blieb keuchend stehen und versuchte meine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Ich konnte ihn nicht sehen, wusste aber, dass er hier sein musste.
»Modena«, sagte ich sanft. »Ich bin es, Lin. Ich will nur mit dir reden. Ich versuche nicht … Ich weiß, dass du hier drin bist. Ich stelle jetzt meine Tasche ab und zünde uns ein Beedie an, okay? Eines für dich. Eines für mich.«
Langsam stellte ich die Tasche ab, wobei ich damit rechnete, dass er versuchen würde, an mir vorbeizurennen. Dann zog ich ein Päckchen Beedies aus meiner Hemdtasche und nahm zwei heraus. Wie jedermann in der Stadt steckte ich sie mir zwischen Mittel- und Ringfinger, die dicken Enden nach innen gewandt, flummelte eine Packung Streichhölzer auf und zündete eines an. Als die Flamme aufoderte, blickte ich kurz hoch und sah Modena, wie er vor dem kleinen Lichtschein zurückwich. Als die Flamme erlosch, streckte ich die Hand aus, um Modena das Beedie anzubieten. Zwei Sekunden vergingen, drei Sekunden, und dann spürte ich seine Finger, die erstaunlich sanft und weich meine Hand umfassten, um mir die Zigarette abzunehmen.
Als er daran zog, sah ich sein Gesicht zum ersten Mal genauer. Es war absolut verunstaltet. Maurizio hatte so viel Leiden in die weiche Haut geschlitzt, dass ich den Anblick kaum ertragen konnte. In dem orangefarbenen Glimmen sah ich das höhnische Lächeln in Modenas Augen, als er meine Reaktion beobachtete. Wie oft schon, fragte ich mich, hatte er dieses Grauen in den Mienen anderer sehen müssen – dieses namenlose Entsetzen, wenn sie sich vorstellten, ihr eigenes Gesicht sei von diesen Narben und ihre Seele von seinen Torturen gezeichnet? Wie oft hatte er es erlebt, dass Menschen bei seinem Anblick zusammenzuckten und zurückwichen, als sei seine Haut mit den schwärenden Wunden einer ansteckenden Krankheit bedeckt? Wie oft hatte er gesehen, wie sie sich fragten: Was hat er getan? Womit hat er das verdient?
Maurizios Messer hatte beide Wangen unter den dunkelbraunen Augen aufgeschlitzt. Die Schnitte waren zu y-förmigen Narben verheilt, die beide untere Augenlider herabzogen und wie groteske Spuren gehässiger Tränen aussahen. Die unteren Lider, rot und entzündet, glichen kleinen Gräben, über denen sich der gesamte Augapfel hervorwölbte. Nasenflügel und -scheidewand waren durchschnitten worden bis auf den Knochen, und die Haut war in sonderbaren Windungen verheilt. Anstatt durch die Nasenlöcher atmete er nun durch etwas, das einer Schweineschnauze glich und bei jedem Atemzug erzitterte. Auch die Haut neben den Augen, am Kinn und auf der gesamten Stirn bis zum Haaransatz war mit Narben übersät.
Es sah aus, als habe Maurizio versucht, Modenas Gesichtshaut abzuziehen. Die zahllosen Narben hatten stellenweise fingerdicke Wulste gebildet. Ich wusste, dass sich unter Modenas Kleidung weitere Entstellungen befinden mussten, denn die Bewegungen seines linken Armes und Beines waren so eckig, als seien Verletzungen an den Gelenken nicht richtig verheilt.
Die Verstümmelung war so grausam, dass ich wie betäubt war und nicht wusste, wie ich mich verhalten sollte. Doch Modenas Mund, bemerkte ich, war unversehrt. Ich fragte mich, wieso seine fein umrissenen sinnlichen Lippen in ihrer Makellosigkeit erhalten geblieben waren. Dann fiel mir ein, dass Maurizio Modena geknebelt hatte, als er ihn ans Bett fesselte. Den Knebel hatte er nur abgenommen, wenn Modena sprechen sollte. Und als Modena an der Zigarette zog, kam es mir vor, als sei dieser glatte unversehrte Mund die schlimmste Wunde von
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