Shantaram
seine Lider sich weiter nach unten zogen. Diese hervortretenden Augäpfel sahen so grauenhaft aus, dass ich mich zusammenreißen musste, um nicht instinktiv zurückzuweichen, als er mir die Hand auf die Brust legte.
»Keine Sorge, Lin. Das Geheimnis ist sicher bei mir. Ich bin froh, dass du ihn getötet hast. Nicht nur für mich. Ich kannte ihn. Ich war sein bester Freund – sein einziger Freund. Wenn er gelebt hätte, nachdem er mir das angetan hat, hätte es kein Ende gegeben für das Böse. So zerstört ein Mann seine Seele – er verliert die letzte Grenze an das Böse. Und ich habe ihn beobachtet, als er mich mit seinem Messer geschnitten hat, und als er weggegangen ist, und ich wusste, dass er seine Seele verloren hat. Es hat ihn die Seele gekostet, was er … mir angetan hat.«
»Du musst nicht darüber sprechen.«
»Nein, es ist jetzt okay, über ihn zu sprechen. Maurizio hatte Angst. Er hatte immer Angst. Er hat sich sein ganzes Leben lang geflürchtet … vor allem. Und er war grausam. Das gab ihm Macht. Ich habe viele mächtige Männer gekannt in meinem Leben, und eines weiß ich – sie hatten alle Angst, und sie waren grausam. Das ist die … Mischung … die ihnen Macht verlieh. Ich hatte keine Angst. Ich war nicht grausam. Ich hatte keine Macht. Ich war … weißt du, es war wie das Gefühl für meine Ulla … ich war verliebt in Maurizios Macht. Und dann, als er wegging und mich auf dem Bett zurückließ und Ulla hereinkam … da sah ich die Angst in ihren Augen. Er hatte ihr seine Angst eingefößt. Er hat ihr so viel Angst gemacht, als sie sah, was er mir angetan hat, dass sie weggerannt ist und mich zurückgelassen hat. Und als ich gesehen habe, wie sie weglief und die Tür zufiel …«
Er zögerte und schluckte schwer. Seine Lippen zitterten. Ich wollte ihn aufhalten, ihm – und vielleicht auch mir selbst – die Schilderung ersparen. Doch als ich sprechen wollte, drückte er mir die Hand ein wenig fester auf die Brust, um mich zum Schweigen zu bringen, und schaute wieder zu mir auf.
»Da habe ich Maurizio zum ersten Mal gehasst. Mein Volk, die Menschen meines Blutes, wir wollen nicht hassen, denn wenn wir hassen, tun wir es mit ganzer Seele, und die kann dem Gehassten niemals verzeihen. Aber ich hasste Maurizio, und ich wünschte ihm den Tod, und ich verfluchte ihn mit diesem Wunsch. Nicht wegen dem, was er mir angetan hatte, sondern wegen meiner Ulla und seinen bösen Taten in der Zukunft, als Mann ohne Seele. Du musst dich also nicht sorgen, Lin. Ich sage niemandem, was du getan hast. Und ich bin froh, ich bin sehr dankbar, dass du ihn getötet hast.«
Eine Stimme in mir forderte, Modena die Wahrheit zu sagen. Er hatte ein Recht darauf, zu erfahren, was wirklich geschehen war. Und ich wollte es ihm auch sagen. Ein Gefühl, das ich nicht ganz verstehen konnte – ein letzter Rest Zorn auf Ulla vielleicht oder eifersüchtige Verachtung für seinen Glauben an sie –, verlangte, dass ich Modena schütteln, ihm die Wahrheit ins Gesicht schreien und ihn damit verletzen sollte. Doch ich war außerstande zu sprechen. Ich konnte mich nicht einmal rühren. Ich starrte Modena nur an, während seine Augen noch röter wurden und überliefen und die Tränen in den Rinnen der Narben über sein Gesicht rannen. Ich schwieg, und ich nickte. Modena nickte auch, langsam. Er deutete meine Geste falsch, oder ich deutete die seine falsch. Ich werde es nie erfahren.
Stille kann so verletzend sein wie der Hieb einer Peitsche, schrieb der Dichter Sadiq Khan. Doch manchmal kommt die Wahrheit nur durch Schweigen zum Ausdruck. Ich sah Modena nach, als er davonhumpelte, und ich wusste, dass – selbst wenn wir uns irrten – diese wortlose Minute, in der er meine Brust berührte und seine tränenden verletzten Augen den meinen ganz nahe waren, immer kostbarer und aufrichtiger für uns beide sein würde als die kalte lieblose Wahrheit aus seiner oder meiner Welt.
Und vielleicht hat er recht, dachte ich. Vielleicht tat er gut daran, Maurizio und Ulla so in Erinnerung zu behalten. Er hatte diesen Schmerz jedenfalls weit besser verarbeitet, als ich es damals vermocht hatte. Als meine Ehe in Betrug und Bitterkeit zerbrach, wurde ich heroinsüchtig. Ich hatte es nicht ertragen können, dass die Liebe zerstört und das Glück so plötzlich zu Schmerz zerfallen war. Ich hatte mein Leben ruiniert und während meines Abstiegs viele Menschen verletzt. Modena dagegen hatte gearbeitet und Geld gespart und wartete auf die
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