Shantaram
hundert Jahre alt und für ein anderes, glorreicheres Zeitalter gebaut worden. Die großzügigen, hohen Räume waren mit fein gearbeiteten Friesen und Deckenrosetten verziert, und alle ihre Balkone gingen auf die Hauptgeschäftsstraße hinaus. Nur die Möbel waren schäbig und wild zusammengewürfelt. Der Teppich im Korridor war so ausgetreten, dass er an vielen Stellen bereits Löcher hatte. Die Farbe blätterte von den schmutzig-fleckigen Wänden, und die Zimmer waren billig. Genau der richtige Ort, hatte Prabaker mir versichert, um auf unserem Weg zurück nach Bombay eine glückliche Nacht zu verbringen.
Wir blieben vor einer Tür am anderen Ende des Korridors stehen. Prabaker zitterte vor Aufregung. Seine Augen waren beängstigend weit aufgerissen.
Ich klopfte, und sofort wurde geöffnet. Eine Frau Anfang fünfzig stand vor uns. Sie trug einen rot-gelb gemusterten Sari und musterte uns boshaft. Hinter ihr im Zimmer saßen mehrere Männer auf dem Boden. Sie trugen Dhotis und weiße Kappen wie die Bauern in Prabakers Dorf und aßen eine herzhafte Mahlzeit aus Dhal, Reis und Roti.
Die Frau trat in den Korridor und zog die Tür hinter sich zu. Sie heftete den Blick auf Prabaker. Er war gut anderthalb Köpfe kleiner als sie, erwiderte ihren verächtlichen Blick jedoch mit der Festigkeit eines Schuljungen, der den starken Mann markiert.
»Siehst du, Lin?«, sagte er, ohne die Augen von ihr abzuwenden. »Siehst du, was hab ich gesagt zu dir?«
Was ich sah, war ein reizloses, breites Gesicht. Eine Knollennase und so dünne, verächtlich verzogene Lippen, dass der Mund an eine Klaffmuschel erinnerte, die sich erst öffnet, wenn man sie mit einem Stock anstößt. Auf Gesicht und Hals trug sie Make-up so dick wie eine Geisha. Dadurch hatte ihre Miene etwas durchdringend Böses.
Prabaker sagte etwas auf Marathi zu ihr.
»Zeig es ihm!«
Statt einer Antwort hob die Frau einfach den oberen Teil ihres Saris und präsentierte mir eine dicke Speckrolle. Sie nahm diese ein, zwei Pfund ihrer Leibesfülle zwischen die stumpfen Finger und begann sie zu kneten. Dabei sah sie mich mit einer hochgezogenen Augenbraue beifallheischend an.
Prabaker entfuhr ein leises Stöhnen, und seine Augen wurden noch größer.
Nun wandte die Frau ihren finsteren Blick theatralisch erst nach rechts, dann nach links den Korridor entlang und hob ihre Bluse ein paar Zentimeter, sodass eine lange dünne Hängebrust zum Vorschein kam. Sie nahm sie in die Hand und schwang sie ein paar Mal in meine Richtung, wobei sie eine Augenbraue mit verblüffend unergründlicher Miene mehrmals hob und senkte. Am ehesten schien es mir ein drohender, verächtlicher Gesichtsausdruck zu sein, aber das war schlicht geraten.
Prabaker fielen fast die Augen aus dem Kopf, und er begann geräuschvoll durch den offenen Mund zu atmen.
Die Frau bedeckte ihre Brust wieder und schüttelte dann so heftig den Kopf, dass ihr langer schwarzer Zopf über die Schulter nach vorn geschleudert wurde. Sie nahm ihn in beide Hände und begann ihn nach unten auszudrücken, als wäre er eine halb leere Zahnpastatube. Kokosöl sammelte sich vor ihren kraftvoll arbeitenden Fingern und tropfte vom Zopfende auf den abgewetzten Teppich.
»Weißt du das, Lin«, murmelte Prabaker, während er gierig und fast furchtsam auf die Öltropfen gaffte und sein rechter Fuß leise auf den Teppich zu klopfen begann. »Wenn du willst keine von die prima Sexsache mit diese Frau hier … wenn … wenn du willst wirklich nicht … na, könnte ich nehmen mein Anzahlung doch für mein gute Selbst …«
»Dann bis später auf unserem Zimmer, Prabu«, antwortete ich und lächelte die Frau höflich an. Ich machte einen kleinen Diener, und ihr verächtliches Knurren begleitete meinen Rückzug.
Ich gedachte die Zeit zu nutzen, um mein Marathi-Wörterbuch auf den neusten Stand zu bringen. Die Liste umfasste inzwischen fast sechshundert Wörter aus der Alltagssprache. Ich hatte die Wörter oder Wendungen, die ich von den Leuten aus dem Dorf gelernt hatte, immer auf irgendwelche Zettel notiert, bevor ich sie nachschlug und in ein stabiles Heft übertrug. Die letzten und neuesten dieser Zettel hatte ich gerade auf dem kleinen Schreibtisch ausgebreitet und wollte beginnen, sie in mein Heft einzutragen, als die Tür aufgestoßen wurde und Prabaker hereingewankt kam. Wortlos ging er an mir vorbei und ließ sich rückwärts aufs Bett fallen. Seit ich ihn an der Tür der Prostituierten zurückgelassen hatte, waren etwa neun
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