Shantaram
nahm, aber verhinderte, dass sie umfielen, wenn sie nicht wach waren.
In den ersten fünf bis zehn Jahren dieses ununterbrochenen Stehens schwollen die Beine an. Das Blut bewegte sich nur noch träge durch die erschöpften Venen, und die Muskeln verdickten. Ihre Beine wuchsen zu aufgedunsenen, von violetten Krampfadern überzogenen Gebilden an. Ihre Zehen quollen wie Elefantenzehen aus den fleischigen Füßen hervor. In der zweiten Phase ihres Leidens wurden die Beine immer dünner, bis am Ende nur noch Knochen übrig blieben, von papierdünner Haut umspannt, auf der sich verkümmerte Venen abzeichneten wie Termitenspuren.
Die Schmerzen waren endlos und qualvoll. Jeder Druck nach unten bohrte sich wie ein Stachel, wie ein Speer, durch die Füße nach oben. Weil sie solche Höllenqualen litten, standen die Stehenden Babas niemals still, sondern schaukelten ständig von einem Fuß auf den anderen, in einer Art sanftem, schwankendem Tanz, der auf Beobachter eine ähnliche Faszination ausübte wie das betörende Flötenspiel eines Schlangenbeschwörers.
Einige Babas hatten ihr Gelübde bereits mit sechzehn oder siebzehn Jahren abgelegt. Sie folgten einer inneren Berufung, die Männer in anderen Kulturen zu Priestern, Rabbinern oder Imamen werden ließ. Die Meisten von ihnen wurden jedoch erst im höheren Alter Babas, weil sie sich auf den Tod und ihre nächste Inkarnationsstufe vorbereiten wollten. Etliche Stehende Babas waren ehemalige Geschäftsleute, die früher rücksichtslos und egoistisch nach Macht, Profit und Lustgewinn gestrebt hatten. Einige waren auch heilige Männer, die schon viele andere geistliche Übungen praktiziert und zermürbende Opfer auf sich genommen hatten, bevor sie dann als letztes das Gelübde der Stehenden Babas ablegten. Es gab sogar Kriminelle unter ihnen – Diebe, Mörder, einflussreiche Mafiosi, selbst ehemalige Warlords –, die sich den endlosen Qualen dieses Gelübdes aussetzten, um zu sühnen und Buße zu tun.
Die Haschischhöhle war eigentlich nur ein schmaler Gang zwischen zwei Backsteingebäuden auf der Rückseite des Tempels der Stehenden Babas. Auf dem Tempelgelände, vor neugierigen Blicken geschützt, lagen der verborgene Garten, die Wandelgänge und die Schlafsäle, die nur denen vorbehalten waren, die das Gelübde abgelegt hatten und hielten. Der Gang hatte ein Wellblechdach und war mit flachen Steinen gepflastert. Die Stehenden Babas betraten ihn durch eine Tür an seinem hinteren Ende. Alle anderen kamen und gingen durch ein Eisentor am vorderen, der Straße zugewandten Ende.
Die Gäste, Männer aus allen Teilen des Landes und allen Gesellschaftsschichten, standen entlang der beiden Wände. Natürlich standen sie: In Gegenwart der Stehenden Babas setzte sich niemand. Nicht weit vom Eingang war ein Wasserhahn über einer Abflussrinne angebracht, wo man sich erfrischen oder ausspucken konnte. Die Babas gingen mit trichterförmigen Chillums aus Ton zwischen den Gästen umher und rauchten mit ihnen gemeinsam das Haschisch.
Durch die selbst auferlegte Marter lag ein beinahe unirdisches Strahlen auf den Gesichtern der Babas. In der Pein ihrer endlosen aufsteigenden Schmerzen erlangte jeder von ihnen früher oder später eine leuchtende, transzendente Seligkeit. Ihre Augen verströmten ein Licht, das aus den erlittenen Qualen geboren war, und nie habe ich bei Menschen ein intensiveres Strahlen aus dem Inneren erlebt als im gepeinigten Lächeln der Stehenden Babas.
Sie schwebten natürlich auch fortwährend in den himmlischen Sphären des Drogenrausches. Die Babas rauchten nur Kashmiri – das beste Haschisch der Welt, das in den Ausläufern des Himalaya in Kaschmir angebaut wird. Und sie rauchten den ganzen Tag, die ganze Nacht, ihr Leben lang.
Ich stand mit Karla und Prabaker an der Rückwand der schmalen Haschischhöhle. Hinter uns befand sich die fest verschlossene Tür, durch die die Stehenden Babas hereingekommen waren. Rechts und links entlang der Wände bis zum eisernen Eingangstor warteten Männer, die in Anzüge oder Designerjeans gekleidet waren oder auch als einfache Arbeiter ausgeblichene Lungis oder Regionaltracht trugen. Die Besucher waren jung und alt, reich und arm. Immer wieder verirrten sich ihre Blicke zu Karla und mir, den beiden hellhäutigen Ausländern. Einige waren sichtlich schockiert, eine Frau hier vorzufinden. Doch trotz der unverhohlenen Neugier sprach uns niemand an oder nahm Blickkontakt auf. Die Männer waren in erster Linie mit den
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