Shaolin - Du musst nicht kämpfen, um zu siegen!: Mit der Kraft des Denkens zu Ruhe, Klarheit und innerer Stärke
Gottesanbeterin
Der Mönch Wang Lang galt im Shaolin-Kloster als ein erfahrener Kämpfer, der 17 Kung-Fu-Stile meisterlich beherrschte. Doch trotz härtestem Training gelang es ihm nicht, seine Mönchs-Kollegen im Zweikampf zu besiegen. Bedrückt zog er sich in einen nahe gelegenen Wald zurück. Eines Tages beobachtete er bei einem Spaziergang einen Kampf zwischen einer Gottesanbeterin und einer Zikade. Die kleine Gottesanbeterin schaffte es, die ihr körperlich mehrfach überlegene Zikade zu besiegen.
Wang Lang war beeindruckt. Er fing die Gottesanbeterin ein und begann sie zu beobachten. Wochenlang studierte er ihre Bewegungen und begann, einen völlig neuen Kampfstil zu entwickeln. Da die Gottesanbeterin vorrangig mit den »Armen« kämpft, übernahm Wang Lang von ihr die Handtechniken. Die Beintechniken entnahm er dem Affenstil. Schließlich fügte er die besten Elemente aus den anderen ihm bekannten Kampfstilen hinzu.
Er nahm sich die Zeit, seinen neuen Stil in Ruhe fertig zu entwickeln und sorgfältig zu trainieren. Dann erst kehrte er ins Kloster zurück, wo er in einem freundschaftlichen Turnier eine große Zahl von Mönchen besiegen konnte. Der Abt war begeistert, und so wurde der Stil offiziell in die Bibliothek von Shaolin aufgenommen. Schüler kopierten ihn von ihren Meistern und gaben ihn, dann selbst an ihre Schüler weiter.
Seit nunmehr bald 400 Jahren gehört die Form der »betenden Mantis«, wie die Gottesanbeterin auch genannt wird, zu den wichtigsten Kampfformen des Shaolin Kung-Fu.
Lernen durch Nachahmung
Nicht nur Kämpferisches wurde aber durch Nachahmung der Natur inspiriert. Das Prinzip der Nachahmung ist so alt wie das Leben selbst. Auch wenn es in unserer Gesellschaft einen negativen Beigeschmack hat, ohne Nachahmung würde die Natur nicht mehr existieren.
Kein Tierkind käme auf die Idee oder wäre überhaupt in der Lage, sich selbst das Jagen beizubringen. Es ahmt jene jahrtausendealte Technik nach, die es bei seiner Mutter sieht. Schwimmen, klettern, kämpfen, kein Tier erfindet etwas neu, wenn es bereits existiert. Was dem Überleben dient, wird übernommen. Lieber Vorhandenes verbessern, als es ein zweites Mal zu erfinden.
Auch die Mönche des Shaolin haben dieses Prinzip übernommen. Wozu eigene Kampftechniken entwickeln, wenn es die besten ohnehin schon gibt? Lieber schon die Energie darauf verwenden, zu beobachten und zu adaptieren.
Die Natur, hat der griechische Philosoph Aristoteles gesagt, schafft immer von dem, was möglich ist, das Beste.
Der Klang der menschlichen Stimme gilt als Referenz für alle Instrumente. Das Auge kann mehr Farben sehen, als irgendein technisches Gerät der Welt zeigen kann. Und die Rechenleistung des Gehirns stellt alle Super-Computer in den Schatten. Kein Mensch, und sei er noch so weise, wird jemals etwas Besseres zustande bringen.
Und deshalb ist das meiste, das Menschen vermeintlich erfunden haben, eine schlechte Imitation. Ob die Form des Rades, die Technik des Fliegens oder der Versuch künstlicher Intelligenz. Alles ist in der Natur viel besser vorhanden und vom Menschen nur kopiert. Was ja eigentlich kein Problem darstellt, oder? Besser gut kopiert als schlecht neu erfunden, sagt ein altes Sprichwort.
Trotz allem gilt genau dies als unschick. Menschen investieren Hunderte, ja oft Tausende von Stunden, um bereits Existierendes neu zu erfinden. Nur für den Ruhm, nachher sagen zu können: »Das habe ich selbst erfunden!«
Wo, so frage ich mich manchmal, wäre heute die Technik des Shaolin Kung-Fu und all der anderen Kampfstile, hätten die Mönche des Shaolin so gedacht? Hätte jeder von ihnen begonnen, von Grund auf neu zu entwickeln, statt bereits Vorhandenes zu adaptieren? Natürlich sollten fremde Ideen nur als Ausgangspunkt für eigene dienen. Sich mit fremden Lorbeeren oder Produkten zu schmücken ist tatsächlich unfein. Aber darum geht es hier nicht.
Nehmen Sie bitte wieder Ihr Heft. Schreiben Sie dort fünf Dinge hinein, die Sie selbst erfinden wollten, obwohl sie durch Nachahmung schneller zu erreichen gewesen wären. Das kann zum Beispiel die optimale Reiseroute sein, nach der Sie nicht fragen wollten. Oder die einfachere Bedienung eines Gerätes, die Ihnen niemand erklären durfte. Schreiben Sie auch dazu, was Sie von der Vereinfachung durch Nachahmung abgehalten hat.
Haben Sie schon einmal überlegt, wie ein Kind lernt? Durch Nachahmen des Verhaltens seiner Bezugspersonen. Ein kleiner Mensch imitiert erfolgreiche
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