Shaos Todeswelt
ließ.
Shao sammelte sich. Ihr Vorhaben hörte sich so einfach an. Das war es nicht. Dazu gehörte schon ein freier Kopf und die Überwindung des normalen logischen Denkens.
Wie eine Figur blieb die Chinesin auf ihrem Platz sitzen, als sie den Versuch startete.
»Amaterasu…«
Sie sprach den Namen aus. Er wehte gegen den Monitor, und sie hoffte, dass ihr Ruf dabei auch die Dimensionsgrenzen übersprang und die Sonnengöttin erreichte.
Nein, sie rührte sich nicht.
Shao gab nicht auf. Sie wusste mit großer Sicherheit, dass der Kontakt möglich war. Abermals rief sie den Namen der Sonnengöttin. Diesmal schon lauter, beinahe ärgerlich. Nur das feingeschnittene Gesicht der Person interessierte Shao. Es sah wächsern aus, aber es war nicht leblos, das wusste sie.
Amaterasu wirkte tatsächlich wie eine lebensgroße Puppe aus dem japanischen Kabuki-Theater. Aber sie war nicht weiß geschminkt, ihre Haut war wirklich so bleich. Sie hatte im Laufe der Gefangenschaft mehr von der Dunkelwelt angenommen als von ihrem eigentlichen Sonnenreich. Das musste schon zugegeben werden, so schwer es Shao auch fiel.
Wie eine Puppe stand ihr zweites Pendant neben dem Altar. Keine Regung. Die Spitze der Waffe wies nach unten. Im Moment lauerten keine Gefahren, doch Shao ließ sich nicht täuschen.
Der dritte Ruf.
Noch etwas lauter, fordernder, auch intensiver.
Diesmal hatte Shao Glück, denn Amaterasu reagierte. Es war nicht so, dass sie unbedingt erwachte und den Anschein erweckte, als wollte sie aufspringen, es war nicht mehr als ein kurzes Zucken ihrer fast noch geschlossenen Augen sowie die leichten Bewegungen auf den beiden Wangen.
Shao atmete tief durch. Sie hat mich verstanden, dachte sie. Sie hat mich gehört. Der nächste Schritt zum Ziel war getan worden.
Vor dem Computer wartete Shao zitternd ab, wie sich die Dinge auch weiterhin entwickeln würden. Amaterasu konnte es einfach nicht bei dieser nur schwachen Reaktion belassen. Sie war schlau genug, um zu wissen, wer sie angesprochen hatte. Zu oft hatte sie Shaos Stimme auch in der Dunkelwelt gehört. Zudem gab es ein unsichtbares, möglicherweise sogar genetisches Band, das die beiden Personen miteinander verknüpfte. Shao war die letzte in der langen Ahnenreihe der Sonnengöttin, und sie war dazu ausersehen worden, Amaterasu aus ihrer Dunkelwelt zu befreien. Lag sie dort tatsächlich noch? War das hier, was das Videospiel ihr zeigte, die eigentliche Dunkelwelt? Oder gab es doch keine Gemeinsamkeit zwischen der Toten- und der Dunkelwelt?
Shao hatte keine Ahnung. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als zu warten. Sie traute sich auch nicht, das Spiel fortzuführen. Deshalb berührte sie die Maus auch nicht.
Warten, noch immer…
Aber Amaterasu kam zu sich. Das drachenartige Monster war vernichtet, und die Sonnengöttin schlug die Augen auf.
Etwas strahlte so hell in die Höhe des Bildschirms hinein, dass selbst Shao die Augen schloss, obwohl sie davon nicht direkt geblendet wurde. Es war das Licht aus den Augen von Amaterasu, und es machte dem Namen alle Ehre.
Das Strahlen dauerte nicht an. Nur für einen Moment war es aufgekommen, dann fiel es wieder zusammen. Die Augen blieben offen, und Shao erkannte in den Pupillen das dort zurückgebliebene goldene Schimmern.
Fassen konnte sie es noch immer nicht. Es entsprach den Tatsachen. Shao hatte es tatsächlich durch ihren Ruf und auch durch den bekannten Klang der Stimme geschafft, die Sonnengöttin aus dem Tiefschlaf zu holen. Sie würde auch nicht wieder in ihn versinken, daran glaubte sie jetzt fest.
Ob die Sonnengöttin atmete, ob sie überhaupt atmen musste, war für Shao nicht zu erkennen. Es blieb allein der Glanz in den Augen, und er wiederum bewies der Chinesin, dass Amaterasu nicht wieder in den Tiefschlaf versinken wollte.
Es gibt keinen Stillstand, dachte Shao. Es muss weitergehen. Irgendetwas passiert immer, auch hier wird es so sein.
Noch lag die Sonnengöttin unbeweglich. In den folgenden Sekunden änderte sich dies, denn abermals durchfuhr ein Ruck ihren Körper. Nur verteilte er sich diesmal auf die gesamte Gestalt, und er schien auch ein Energiestoß zu sein, denn Amaterasu veränderte ihre Lage.
Sie erhob sich.
Das passierte nicht ruckartig, sondern eher bedächtig. Als wären Fäden in Bewegung geraten, die nun den Körper der noch schwach wirkenden Sonnengöttin in die Höhe hievten.
Sie setzte sich wieder auf wie eine Puppe, um dann ebenso steif zu verharren. Ihr Profil war Shao
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