Shaos Todeswelt
hatte Shao II aus dem Weg schaffen können. Den Drachen gab es nicht mehr. Er war schwer einzuschätzen. War er tatsächlich so gefährlich gewesen, oder hatte man ihn einfach nur als eine lächerliche Figur ansehen müssen?
Eine feste Regel gab es da, und so drehte sich Shao um, weil sie sich an Amaterasu wenden wollte.
Die Sonnengöttin hockte noch immer auf der Altarplatte und blickte Shao an. Beide sprachen nicht miteinander, aber die Fragen drängten sich der Chinesin auf.
Echt oder unecht?
Sie konnte sich nicht sicher sein. Amaterasu brauchte nicht echt zu sein. Jemand, der ihre Legende kannte, konnte sie durchaus für das Spiel elektronisch aufgearbeitet haben. Das wollte die echte Shao natürlich herausfinden.
»Wer bist du?« fragte sie leise. »Bist du tatsächlich die Sonnengöttin, die in der Dunkelwelt gefangen ist?«
Amaterasu schwieg. »Kannst du nicht reden?«
»Finde den Fächer!«
Es war eine Antwort gewesen, doch Shao hatte sie nicht normal gehört, sondern nur in ihrem Kopf. Dort waren die Worte hineingedrungen, und sie war auch bestätigt worden.
Sehr langsam nickte sie. »Wo muss ich ihn suchen?« fragte sie leise.
»Er ist hier.«
»Wo?«
»In dieser Welt.«
»Versteckt?«
»Ja. Sie ist sehr groß. Auch ich weiß nicht, wo ich ihn suchen soll. Ich brauche Hilfe.«
Shao wartete ab. Sie überlegte und schüttelte dabei leicht den Kopf, weil sie einfach nicht akzeptieren wollte, dass dieses künstliche Geschöpf auch zu ihr gesprochen hatte. Auf der anderen Seite war es Amaterasus Stimme gewesen, denn die kannte Shao sehr genau. Ob die Stimme allerdings eine Einheit mit dem Körper bildete, war fraglich. Es gab noch eine andere Möglichkeit.
Für Shao war es durchaus zu vertreten, dass sich die echte Amaterasu gemeldet hatte. Und zwar aus der echten Dunkelwelt und nicht aus der von einem Rechner geschaffenen. So wie ich Kontakt mit meiner Zweitperson gehabt habe, konnte auch die echte Sonnengöttin die andere hier übernommen haben.
War das schon der Beginn des Wahnsinns? Oder der erste Schritt in ein digitales, magisches Zeitalter?
Es waren nur Vermutungen, die Shao allerdings nicht aus ihrem Kopf verbannte.
»Gut«, sagte sie und nickte, wobei sie der Sonnengöttin ihre Hand entgegenstreckte. »Wir werden es versuchen. Ich habe mich entschlossen. Wir werden den verlorenen Fächer gemeinsam suchen und ihn auch hoffentlich finden. Ich brauche nur den Weg…«
Amaterasu verstand die Geste. Sie bewegte sich auf der Altarplatte und streckte ihrerseits Shao eine Hand entgegen, so dass es zu einer ersten Berührung kam.
Shao nahm den Kontakt hin. Die Hand der Sonnengöttin fühlte sich neutral an. Ebenso neutral war auch ihr Gesicht geblieben. Dort zeichneten sich keinerlei Gefühle ab.
Die Chinesin schaute sehr genau zu, wie sich die Sonnengöttin bewegte. Nicht abgehackt, sondern fast so flüssig wie ein normaler Mensch. Sie stemmte ihre Füße gegen den Boden, um einen sicheren Stand zu haben. Dann ließ sie sich von Shao vorziehen, und sie sprach auch wieder mit ihr.
»Gemeinsam werden wir den Fächer finden. Ich weiß es. Wir können die Welt durchwandern, aber wir werden achtgeben müssen. Wir können immer wieder Überraschungen erleben, denn wie sie letztendlich aussieht und wo wir hingelangen, liegt nicht in unserer Hand. Das werden andere befehlen.«
Da hatte sie etwas ausgesprochen, mit dem sich Shao gedanklich ebenfalls beschäftigt hatte. Sie würden von einem Spieler manipuliert werden. Von irgendeinem, der die Diskette eingeschoben hatte.
Shaos Gedanken wanderten. Im Moment war Amaterasu nicht wichtig für sie. Sie dachte daran, dass dieses Spiel zehntausendfach verkauft worden war, und sie überlegte ferner, dass es durchaus möglich sein konnte, dass jetzt zu diesem Zeitpunkt die verschiedenen Käufer vor ihren Computern saßen und spielten.
Was sahen sie?
Alles das, was hier passierte. Mit der neuen echten Figur als zentrale Person? Oder sahen sie etwas anderes? Erlebten sie es wie früher? Neutraler?
Die echte Shao hatte keine Ahnung. Noch kam sie mit der neuen Lage nicht zurecht. Diese Welt war zudem echt für sie. Sie lebte auf ihre Art und Weise.
Sie steckte voller Gerüche. Aus den Wänden drangen sie hervor. Shao roch es deutlich.
Wo gab es einen Ausgang?
Sie sahen keinen. Sie konnten höchstens zurück. Aber es musste einen anderen Weg geben. Wahrscheinlich würde sie ihn nicht finden. Dafür musste dann ein Spieler sorgen.
Wer spielte jetzt? Wie
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