Shaos Todeswelt
viele dieser Freaks hockten vor ihren Geräten? Es war Tag. Shao wusste aus Erfahrung, dass die Spieler zumeist erst gegen Abend damit anfingen. Allerdings gab es auch welche, die durchmachten. Sie vergaßen dann einfach die Zeit und wussten nicht mal, ob es Tag oder Nacht war. Shao drehte sich um. Sie hatte gespürt, dass ihre virtuelle Zwillingsschwester etwas von ihr wollte. Es war ein Gefühl, eine Bewegung, eine Ahnung.
Deshalb drehte sich die Chinesin um!
Shao II stand vor ihr. Beide Frauen schauten sich an. Die echte Shao suchte nach Leben in den Augen der anderen. Dabei merkte sie, dass etwas auf sie zukam.
Es war eine andere Kraft, eine andere Macht, wie auch immer. Shao konnte sich dagegen nicht wehren. Sie fühlte sich schon jetzt manipuliert, obwohl die andere Kraft sie noch nicht erreicht hatte.
Einen Moment später war alles anders. Da riss es diese virtuelle Welt um sie herum förmlich auseinander. Shao kam sich vor, als wäre sie in eine Tiefe und Höhe zugleich geschleudert worden, und alles Bekannte um sie herum war plötzlich nicht mehr da…
***
Wir starrten noch immer in das böse Loch der Revolvermündung. Darunter sahen wir die Hand mit dem Zeigefinger, der den Abzug gefasst hielt. Er brauchte ihn nur um eine Idee nach hinten zu ziehen, dann würde die Kugel entweder Suko oder mich treffen.
Wenn wir die Blicke anhoben, sahen wir das Gesicht des Chinesen Cheng, dessen Mund zu einem breiten Lächeln verzogen war. Es zeigte den reinen, kalten Triumph.
So klang auch seine Stimme. »Sie hätten nicht zu neugierig sein sollen, meine Herren. Es war Ihr Pech. Aber das müssen Polizisten wohl sein. Jetzt ist es zu spät für Sie.«
Ein Gegner wäre vielleicht noch zu schaffen gewesen, aber Cheng hatte gut gearbeitet und seine Leute unter Kontrolle. Die drei Typen, die zuvor hier am Konferenztisch gesessen hatten, später weggeschickt worden waren, die waren wieder zurückgekehrt. Allerdings etwas verändert. Nicht nur wegen ihrer weißen Hemden und den blauen Hosen sahen sie aus wie Soldaten, sondern auch wegen ihrer Waffen, denn ein jeder von ihnen hielt einen Revolver fest. Deren Mündungen wiesen auf unsere Rücken. Wenn die Männer abdrückten, würden wir durchlöchert werden, das stand fest.
»Gut, Mr. Cheng«, sagte ich. »Sie haben gewonnen. Vorerst zumindest. Darf ich fragen, wie es weitergehen soll? Wollen Sie uns jetzt erschießen, oder haben Sie…?«
»Ich habe gar nichts«, erklärte er. »Ich möchte nur, dass alles so bleibt wie es ist.«
»Aha.«
»Dazu gehört auch, dass Sie beide ihre Plätze einnehmen. Setzen Sie sich auf die Stühle, aber legen Sie zuvor ihre Dienstwaffen auf den Tisch. Sie wissen sicherlich, wie es geht. Trotzdem möchte ich Sie vor unbedachten Handlungen warnen, denn meine Männer passen wirklich auf wie Luchse. Sie sind es gewohnt, mit Waffen umzugehen, und sie werden sich auch nicht scheuen, Sie beide zu töten, wenn es nötig sein sollte. - Damit wäre das klar.«
Er hatte leider recht. Wir steckten in einer Zwickmühle. Suko und ich bewegten uns synchron. Ich sah es meinem Freund an, als Gefühle in ihm tobten. Er kochte innerlich. Er wäre am liebsten gegen die Decke gefahren oder hätte alles zertrümmert, aber er beherrschte sich, auch wenn es ihm schwerfiel. Menschen wie dieser Cheng drohten nicht grundlos. Das wussten wir beide.
Meine Finger glitten über das kühle Metall der Beretta hinweg. Ich fasste sie nur vorsichtig an, denn Cheng beobachtete uns mit wahren Argusaugen. Er konnte zufrieden sein. Weder Suko noch ich gaben ihm die Chance zum Schuss. Nahezu folgsam zogen wir unsere Berettas hervor und legten sie auf den Konferenztisch.
Der Meister war zufrieden. Er gestattete sich ein noch breiteres Lächeln, das uns natürlich auffiel. Einer der Männer in unserem Rücken bewegte sich und sammelte die Waffen ein. Dabei flüsterte er mit seinen Kumpanen. Was da gesprochen wurde, verstanden wir nicht, denn sie redeten in ihrem Dialekt.
Cheng entspannte sich wieder. Er ließ die Mündung der Waffe nach unten sinken. Auf seinem Gesicht zeigte sich ein zufriedener Ausdruck. Mit dem Lauf deutete er auf die Stühle. »Sie brauchen wirklich nicht stehen zu bleiben. Setzen Sie sich hin, meine Herren.«
Wir taten es.
Suko saß mir gegenüber. Öfter als ich warf er einen Blick auf den Monitor. Dort hatte sich nichts verändert. Es war zu keiner Bewegung gekommen. Die Szene wirkte wie festgefroren. Noch immer sahen wir nur die drei
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