Shardik
den Armen ein totes Kind trug und mit Worten, die er nicht verstand, um Hilfe flehte. So wirklich schien sie ihm, daß Grauen und böse Ahnung ihn überfielen, als er weitereilte. »Shardik«, betete er, »senandril, Shardik, mein Herr. Nimm mein Leben hin. Erlöse die Welt und beginne mit mir!«
Und nun ist er zum Garten gelangt, wo die Herren und Damen vor ihm zurückweichen und die Barone zur Begrüßung der von Gott dem Priesterkönig anvertrauten Macht ihre Schwerter heben. Der Gesang der Priesterinnen verstummt, die Kupferglocken schweigen, der feurige Bär und der Drache haben ihren Streit beendet und brennen nur mehr schwach, ohne daß jemand zusieht. Die Menge an den Ufern schreit und jubelt nicht mehr, so daß der ferne Lärm des Tumultes aus der Unterstadt über die Mauern heraufdringt. Der Priesterkönig schreitet allein vor den Augen bewaffneter Barone und der Abgesandten seiner Vasallenprovinzen zum Rand eines tiefen Küstenteichs – des Lichtteichs. Dort muß er, ohne irgendwelche Hilfe, sich seiner schweren Kleider und der Krone entledigen und, nackt in der scharfen Nachtluft stehend, seine Füße in Bleisandalen schieben, die für ihn vorbereitet am Rande stehen. Unter ihm brennt, tief unten im Teich, umgeben von Dunkel und Wasser, ein einzelnes Licht – ein in einer hohlen Kristallkugel, die an einem Felsen befestigt ist, verschlossenes Licht, das von Luft umfächelt wird und seine Wärme und den Rauch durch verborgene Öffnungen abgibt. Das ist Fleitils Feuer, vor langer Zeit zur Verehrung Crans erdacht, nun aber ein Teil von Shardiks Feuerfest. Der König muß über die Stufen in das Wasser hinuntersteigen, seine bleibeschwerten Füße tragen ihn zum Boden des Teiches, und von dort löst er sich und steigt mit der lichten Wunderkugel nach oben. Er ist schon vorgetreten, mit beschwerten Füßen nach jeder Stufe tastend und langsam niedersteigend in einer Stille, die nur von den an seine Knie, seine Hüften, seinen Hals schlagenden Wellen unterbrochen wird.
Doch horch! Ein grauenvoller Ton, der die ehrfürchtige Stille der ortelganischen Krieger und der beklanischen Barone zerreißt, der wie ein Schwert den überfüllten Garten und den leeren See durchschneidet! Man dreht sich um, Stimmen werden laut. Einen Augenblick herrscht Stille, dann ertönt es wieder – das Brüllen eines großen Tieres in Wut, Angst und Schmerz: so laut, so heftig und wild, daß die Frauen sich in die Arme ihrer Männer verkrallen, wie beim Getöse von Donner oder Kampf; Knaben heucheln Gleichgültigkeit, ohne ihre unwillkürliche Angst ganz verbergen zu können. Die nächst dem König bei den Stufen wartende Sheldra dreht sich um und steht gespannt, hebt zum Schutz gegen den Fackelschein eine Hand an die Augen und versucht, über den Garten zum dunklen Umriß des dahinterliegenden Königshauses zu blicken. Das Brüllen verstummt, ihm folgen schwere, dumpf vibrierende Schläge, als ob ein weicher, aber massiver Gegenstand gegen die Mauer dieses höhlenartigen, hallenden Gebäudes schlüge.
Kelderek, der schon Luft geholt hatte, um unterzutauchen und von der untersten Stufe zum Teichboden zu schwimmen, stieß einen unartikulierten Schrei aus und entledigte sich seiner beschwerten Sandalen. Er öffnete die Schnallen, stieg aus dem Wasser und stand triefend auf dem gepflasterten Rand. Das Murmeln rund um ihn wurde lauter, unfreundlich und angstvoll. »Was ist geschehen?«
»Was hat er vor?«
»Abbrechen – das bringt Unglück!«
»Eine verhängnisvolle Handlung – die bringt nichts Gutes!«
»Frevel!« In der Menge weinte eine Frau mit nervösem, ängstlichem Schluchzen.
Kelderek kümmerte sich nicht darum. Er bückte sich, als wollte er die zu seinen Füßen liegenden steifen, schweren Gewänder wieder anlegen. In seiner Hast verhaspelten sich seine Hände mit den Verschlüssen, das Gewand fiel zu Boden, er ließ es liegen und drängte sich, nackt wie er war, durch die ihn umgebende Gruppe der Priesterinnen. Sheldra legte die Hand auf seinen Arm:
»Herr – «
»Aus dem Weg!« rief Kelderek und stieß sie zur Seite.
»Was gibt es, Kelderek?« fragte Zelda, trat heran und sagte schnell und leise an seiner Schulter: »Mach keinen Unsinn, Mann! Was hast du vor?«
»Shardik! Shardik!« schrie Kelderek. »Folgt mir, um Himmels willen!«
Er lief los, Zweige und Steine stachen in seine bloßen Füße. Blutend schob und zwängte er seinen nackten Körper zwischen Männern in Rüstung und quietschenden, entrüsteten
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