Shardik
Volks wie eine Waffe, die über ihm geschwungen wurde. Er begegnete den Augen einer Frau, die ihren Arm hob und das Zeichen gegen Unheil machte, und senkte wieder den Kopf wie ein geduckter Sklave, der einen Schlag erwartet. Er merkte, daß er schwer atmete, daß seine Schritte nun schneller waren als die der Soldaten, daß er beinahe lief, um seinen Platz unter ihnen zu behalten. Er sah sich, wie er der Menge erscheinen mußte – abgezehrt, verschüchtert, verächtlich, vor dem Hauptmann dahineilend wie ein über einen Weg getriebenes Tier.
Die Straße führte zum Marktplatz, und auch dort waren die unzähligen Gesichter und die entsetzliche Stille. Keine keifende Frau, kein Händler, der seine Waren ausrief; als sie zu dem Brunnenbecken kamen – in Kabin gab es viele Brunnen –, wurde der Wasserstrahl schwächer und versiegte. Kelderek hätte gern gewußt, wer das zeitlich so gut abgestimmt hatte und ob er den Befehl dazu erhalten oder aus eigenem Antrieb gehandelt hatte; dann versuchte er zu erraten, wie weit es noch bis zum Osttor sein mochte, wie es aus der Nähe aussehen würde und welche Befehle der Hauptmann erteilen würde. Der Soldat neben ihm hatte eine lange weiße Narbe an der Wange, und Kelderek dachte: »Wenn mein rechter Fuß als nächster einen Stein loslöst, hat er die Wunde in der Schlacht davongetragen. Ist es mein linker, so geschah es bei einer Schlägerei.«
Nicht daß diese Gedanken auch nur einen Augenblick seinen Horror gegen die Stille und gegen die Augen, denen er nicht zu begegnen wagte, abgewehrt hätten. Wenn es nicht eine Fieberphantasie seiner Furcht und Qual war, gab es in der Menge eine steigende Spannung wie vor dem Ausbruch der Regenperiode. »Wir müssen hinkommen«, murmelte er. »Um jeden Preis müssen wir hinkommen, mein Herr Shardik, bevor die Regenzeit beginnt.«
Vor seinem Gesicht flog, von einem auf der Straße liegenden Stück Aas aufgeschreckt, ein Fliegenschwarm. Er dachte an die an den schilfbewachsenen Ufern des Telthearnas schwirrenden Gylonfliegen mit ihrem durchsichtigen Leib. »Ich bin eine Gylonfliege geworden – ihre Blicke durchdringen mich – durch und durch – sie begegnen jenen Blicken, die mich von der anderen Seite durchdringen. Meine Knochen werden zu Wasser. Ich werde fallen.
Er kam, er kam des Nachts,
überall um uns war Stille.
Ein Schwert durchdrang mich, für immer bin ich verändert.
Senandril na kora, senandril na ro.«
Seine Gedanken kehrten, wie die eines verlassenen Kindes zur Erinnerung an Verlust und Kummer, zu Elleroths Worten im Garten zurück.
»Dein Bär wird bald sterben, Crendrik – «
»Schweig und geh weiter!« sagte der Offizier zwischen zusammengepreßten Zähnen.
Er wußte nicht, daß er laut gesprochen hatte. Bei einem plötzlichen Windstoß wirbelte der Staub hoch, doch keines der Augen um ihn schien sich zum Schutz zu schließen. Die Straße war nun steiler, es ging bergauf. Er beugte sich vor und senkte den Kopf wie ein Ochse, der eine Last bergan zieht, blickte auf den Boden und schleppte sich weiter. Sie verließen den Marktplatz, doch die Stille zog ihn zurück, die Stille war ein Zauber, der ihn festhielt. Das Gewicht von Tausenden von Augen war eine Last, die er nie zum Osttor hinaufschleppen könnte. Er schwankte, dann stolperte er rückwärts gegen den Hauptmann, drehte sich um und flüsterte: »Ich kann nicht weiter.«
Er spürte die Spitze des Dolches, den ihm der Hauptmann knapp über dem Gürtel an den Rücken drückte.
»Statthalter von Sarkid oder nicht, ich töte dich, ehe meinen Leuten etwas zustößt. Vorwärts!«
Plötzlich wurde die Stille durch den Schrei eines Kindes unterbrochen. Der Ton war wie das Aufleuchten einer Flamme im Dunkel. Die Soldaten, die unsicher stehengeblieben waren, als er stolperte, sammelten sich um ihn, der Hauptmann fuhr zusammen wie bei einem Trompetenstoß, und alle Köpfe wandten sich mit einem Ruck in die Richtung, aus welcher der Schrei gekommen war. Ein etwa fünf- oder sechsjähriges Mädchen, das die Straße überqueren wollte, bevor die Soldaten kamen, war im Lauf gestolpert, der Länge nach hingefallen und lag nun weinend im Staub, vielleicht weniger aus Schmerz als aus Furcht vor dem grimmigen Aussehen der Soldaten, zu deren Füßen die Kleine lag. Eine Frau trat aus der Menge und hob sie auf; ihre beruhigende und tröstende Stimme war deutlich an der Straße zu hören, als sie das Kind forttrug.
Kelderek hob den Kopf und holte tief Atem. Der
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