Shardik
Schall hatte das unsichtbare, jedoch schreckliche Spinnennetz zerrissen, in dem er wie eine in einen klebrigen Faden verwickelte Fliege fast die Kraft, sich zu wehren, verloren hatte. Wie wenn Männer endlich einen trockengelegten Graben am Fluß aufbrechen, in dem sie ein Kanu ausgebessert haben, so daß das Wasser hereinströmt und das Fahrzeug wieder in sein wahres Element bringt und hochhebt, bis es schwimmt, so gab der Klang der Kinderstimme Kelderek die einfache Willenskraft und Entschlossenheit des gewöhnlichen Menschen wieder, auszuharren und zu überleben, komme, was da wolle. Sein Leben war, gleichgültig weshalb, verschont worden; je eher er aus der Stadt fortkam, desto besser. Wenn das Volk ihn haßte, dann wußte er die Antwort darauf – er würde verschwinden.
Ohne ein weiteres Wort an den Hauptmann nahm er seinen Marsch wieder auf und schleuderte beim Bergansteigen den weichen Sand mit seinen Absätzen nach hinten. Die Menschen drängten sich nun näher heran, die Soldaten wehrten sie mit ihren Speerschäften ab, und der Hauptmann rief: »Zurück! Zurücktreten!«
Er beachtete sie nicht, sondern bog um eine Ecke und stand nun vor dem Wachtturm am offenen Tor; das Geländer war ausgeschwenkt und zu beiden Seiten hochgezogen, um zu verhindern, daß ihnen jemand aus der Stadt ins Freie folgte. Sie durchschritten den hallenden Torbogen. Ohne sich umzudrehen, hörte er, wie das Tor knirschend zufiel und die Riegel vorgelegt wurden.
»Nicht stehenbleiben!« sagte der immer noch dicht hinter ihm gehende Hauptmann.
Sie stiegen zwischen Bäumen einen Hügel bergab und kamen zu einer steinigen Furt über einen Strom, der von den bewaldeten Hügeln links hinabfloß. Dort traten die Soldaten auseinander, ohne auf Befehle zu warten, knieten hin, um zu trinken, oder warfen sich ins Gras. Der Offizier faßte Kelderek wieder an der Schulter und drehte ihn um, so daß sie einander gegenüberstanden.
»Das ist der Vrako – die Grenze der Provinz Kabin, wie du wohl weißt. Auf Befehl des Statthalters bleibt das Osttor von Kabin für eine Stunde geschlossen, und ich werde ebenso lange diese Furt geschlossen halten. Du darfst den Fluß durch die Furt überqueren, und dann kannst du gehen, wohin du willst.« Er machte eine Pause. »Noch etwas. Wenn die Armee Befehl erhält, das Gebiet östlich des Vrakos zu durchstreifen, werden wir nach dir Ausschau halten; und du wirst uns kein zweitesmal entkommen.«
Er nickte zum Zeichen, daß er nichts mehr zu sagen hatte, und Kelderek, der die Flüche der Soldaten hinter sich hörte – einer warf ihm einen Stein nach, der neben seinem Knie auf einen Felsen traf –, stolperte voran durch die Furt und ließ sie dort zurück.
Fünfter Teil • Zeray
39. Jenseits des Vrakos
In Bekla hatte er von dem Land östlich von Kabin gehört – »die Müllgrube des Reiches« hatte es einer seiner Provinzgouverneure genannt –, eine Provinz ohne Landgüter und ohne Regierung, ohne Einkommen und ohne eine einzige Stadt. Sechzig Kilometer unterhalb von Ortelga machte der Telthearna einen großen Bogen und floß dann am äußersten Rand der Gelter Berge entlang nach Süden. Südlich dieser Berge und westlich des Telthearnas lag eine unzugängliche Wildnis, bewaldete Kämme, Sümpfe, Bäche und Wälder, ohne Straßen und ohne Siedlungen außer einigen elenden Dörfern, wo die Einwohner von Fischen, halbwilden Schweinen und dem lebten, was sie aus dem Boden kratzen konnten. In solchen Gegenden einen Mann zu suchen und zu finden, war so gut wie unmöglich. So mancher Flüchtling und Verbrecher war in dieser Wildnis verschwunden. Es gab in Bekla ein Sprichwort: »Ich würde den Soundso töten, wenn sich die Reise nach Zeray lohnte.« Unartigen, unfolgsamen Knaben sagten ihre Mütter: »Du wirst in Zeray enden.« Es ging das Gerücht, man könne sich von diesem abgelegenen Ort – eine Stadt konnte man ihn nicht nennen –, wo der Telthearna sich zu einer Breite von weniger als vierhundert Meter verengte, wenn man bezahlen konnte, zum Ostufer übersetzen lassen, ohne daß Fragen gestellt wurden. In alten Zeiten hatte sogar die nördliche Vorpostenarmee Kabin als äußersten Punkt im Osten festgelegt, bis zu dem sie marschierte, und Steuereinnehmer oder -einschätzer überquerten, aus Angst um ihr Leben, den Vrako nie. Dieses Land hatte Kelderek nun betreten, dort durfte er dank Elleroths Barmherzigkeit leben, so lange er konnte.
Nachdem er die neuen Schuhe aus dem Packen genommen hatte,
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