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Shardik

Titel: Shardik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Adams
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den Rücken zu, und ihr Umriß und der des Grabhügels, neben dem sie stand, hoben sich deutlich vom Himmel ab. Das Grab war mit geschnitzten und bemalten Platten umgeben, wodurch es aussah wie eine große, dekorierte Truhe, und es hatte im Gegensatz zu den vernachlässigten Hügeln rundum eine Art vornehme Würde. An einem Ende war ein Lanzenfähnchen senkrecht in den Boden gesteckt worden, aber der Wimpel hing schlaff nach unten, denn es gab nicht den geringsten Wind, und Kelderek konnte das Wappen nicht erkennen. Die Frau war schwarz gekleidet und barhäuptig, wie eine Trauernde, und schien jung zu sein. Er fragte sich, ob es das Grab ihres Mannes war, zu dem sie da allein gekommen war, und ob er eines natürlichen oder eines gewaltsamen Todes gestorben war. Sie stand, schlank und anmutig gegen den blassen Himmel, mit ausgestreckten Armen und vorwärts erhobenen Händen, als stellte die Schönheit und Würde dieser traditionellen Haltung an sich für sie ein so frommes Gebet dar wie alle Worte oder Gedanken, die von ihrem Herzen ausgehen könnten.
    »Das ist eine Frau«, dachte er, »für die es ganz natürlich ist, ihren Gefühlen – sogar dem Kummer – sowohl durch ihren Körper wie durch ihre Lippen Ausdruck zu verleihen. Wenn es in Zeray auch nur eine Frau von solcher Anmut gibt, so kann der Ort nicht durch und durch schlecht sein.«
    Er wollte schon auf sie zugehen, da zögerte er bei dem plötzlichen Gedanken an den Eindruck, den er machen mußte. Er hatte seit dem Verlassen Beklas kein einziges Mal sein Spiegelbild gesehen, erinnerte sich aber an Ruvit, den watschelnden, viehischen Menschen mit seinen roten Augen, und an die zerlumpten, stinkenden Männer, die ihn zuerst durchsucht und sich dann mit ihm angefreundet hatten. Warum diese Frau hier allein war, wußte er nicht. Vielleicht gingen junge Frauen in Zeray allgemein ohne Begleitung aus, was ihm allerdings nach allem, was er von dem Ort gehört hatte, unwahrscheinlich erschien. Sollte sie vielleicht eine Kurtisane sein, die einen bevorzugten Liebhaber betrauerte? Jedenfalls würde sein Anblick sie wahrscheinlich in Schrecken versetzen, möglicherweise sogar in die Flucht jagen. Vor der Tuginda aber würde sie keine Angst, sondern vielleicht mit ihr Mitleid haben.
    Er ging zurück zum Wasser.
    »Saiyett, nicht weit von hier betet eine Frau – eine junge Frau. Wenn ich mich ihr näherte, würde sie das nur erschrecken. Könntest du mit mir kommen, wenn ich dir helfe und wir langsam gehen?«
    Sie nickte, leckte ihre trockenen Lippen und streckte ihm beide Hände entgegen. Er half ihr auf die Füße und stützte sie bei ihrem unsicheren Gang zwischen den Gräbern. Die junge Frau stand immer noch reglos mit erhobenen Armen dort, als wolle sie Frieden und Segen auf den toten Freund oder Liebhaber, der zu ihren Füßen in Erde gehüllt lag, herabholen. Die Haltung, das wußte er, wurde schon nach kurzer Zeit unbequem, dennoch schien sie, versunken in ihren verhaltenen, stummen Schmerz, sich um die Beschwerden, die quälenden Fliegen und die Einsamkeit nicht zu kümmern.
    »Sie braucht nicht zu weinen und nicht zu sprechen«, dachte er. »Vielleicht ist ihr Leben erfüllt von Verlust und Reue, so wie das meine jetzt, und sie kann nichts dazu tun, als zur Stelle sein. Wahrscheinlich gibt es viele solche in Zeray.«
    Als sie sich dem Grab näherten, hustete die Tuginda wieder, und die Frau wandte sich erschrocken um. Ihr Gesicht war jung und, obgleich noch schön, vor Entbehrung mager und, wie er annahm, durch die von einem steten Kummer stammenden Falten entstellt. Er sah, wie sich ihre Augen weiteten vor Überraschung und Furcht, und flüsterte drängend: »Sprich, Saiyett, sonst läuft sie davon.«
    Die Frau starrte, als seien ihr Geister erschienen, die Knöchel ihrer zusammengepreßten Hände waren an ihren offenen Mund gedrückt, und plötzlich drang durch ihre raschen Atemzüge ein leiser Schrei. Doch sie lief nicht fort und wandte sich nicht einmal zur Flucht, sondern starrte nur dauernd ungläubig auf die beiden Ankömmlinge. Auch Kelderek stand still, scheute jede Bewegung und versuchte, sich zu entsinnen, woran ihn ihre Bestürzung erinnerte. Dann sah er, wie ihre Tränen zu fließen begannen, sie sank in die Knie und starrte immer noch gebannt auf die Tuginda; ihr Blick glich dem eines Kindes, das unerwartet von seiner nach ihm suchenden Mutter gefunden wird und noch unsicher ist, ob die Mutter sich liebevoll oder aufgebracht zeigen wird.

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