Shardik
selbst wenn es das Leben kostet!« Sie reichte ihm ihre Hände und blickte ihn mit dem Ausdruck der Autorität an, wenn auch das schwache Lampenlicht die Tränenspuren auf ihren Wangen zeigte.
»Komm, mein teurer und einzig Geliebter, wir gehen nun zu der Tuginda und sagen ihr, daß du nach Lak gehst.«
Einen Augenblick zögerte er, dann zog er die Schultern hoch.
»Also gut. Aber ich warne dich, ich werde ihr sagen, was ich denke.«
Sie nahm die Lampe, und er folgte ihr. Das Feuer war niedergebrannt, und als sie an dem Herd vorbeigingen, hörte er das leise, scharfe, schwindende Klirren der erkaltenden Steine und der erlöschenden Asche. Melathys klopfte an die Tür des Zimmers der Tuginda, wartete ein wenig, dann trat sie ein. Kelderek folgte ihr. Das Zimmer war leer.
Melathys stieß ihn in ihrer Hast zur Seite und lief zur Hoftür. Er rief: »Warte! Es ist unnötig – « Aber sie hatte schon die Riegel zurückgeschoben, und als er zur Tür kam, sah er das Licht ihrer Lampe auf der anderen Hofseite, reglos in der windstillen Luft. Er hörte sie rufen und lief hinüber. Die Klinke der Außentür war geschlossen, aber die Riegel waren zurückgeschoben worden. Auf dem Holz war ein anscheinend hastig mit einem Kohlenstift gezeichnetes krummliniges, sternenähnliches Symbol zu sehen.
»Was ist das?« fragte er.
»Das auf dem Terethstein eingeritzte Symbol«, flüsterte sie bestürzt. »Es ruft die Kraft Gottes an und erbittet seinen Schutz. Nur die Tuginda vermag es zu zeichnen, ohne daß es ein Frevel ist. O Gott! Sie mußte die Riegel offen lassen, aber dies konnte sie noch für uns tun, ehe sie fortging.«
»Rasch!« rief Kelderek. »Sie kann noch nicht weit sein.« Er lief über den Hof, schlug auf einen der Fensterläden und rief: »Ankray! Ankray!«
Der Mond gab genug Licht, und sie brauchten nicht weit zu suchen. Sie lag, wo sie gefallen war, im Schatten einer Lehmmauer auf halbem Wege zum Flußufer. Als sie herankamen, verschwanden zwei Männer, die über sie gebeugt standen, lautlos wie Katzen. Sie hatte eine breite, bläuliche Beule am Nacken und blutete aus Mund und Nase. Der Mantel, den sie über ihren hastig angezogenen Kleidern getragen hatte, lag nebenan im Schmutz, wo ihn die Männer hatten fallen lassen.
Ankray hob sie wie ein Kind auf, und sie eilten zusammen zurück; Kelderek hielt das Messer bereit und blickte wiederholt über seine Schulter, um zu sehen, ob sie verfolgt würden. Doch es belästigte sie niemand, und Melathys wartete an der Hoftür, die sie öffnete. Als Ankray die Tuginda auf ihr Bett gelegt hatte, entkleidete Melathys sie und fand keine schweren Verletzungen außer dem Schlag unter dem Hinterkopf. Sie wachte die ganze Nacht bei ihr, aber die Tuginda hatte bei Tagesanbruch das Bewußtsein noch nicht wiedererlangt.
Eine Stunde später machte sich Kelderek, bewaffnet und ausgerüstet mit Geld, Proviant und Bel-ka-Trazets Siegelring, auf den Weg nach Lak.
Sechster Teil • Genshed
48. Jenseits von Lak
Am nächsten Nachmittag war es so warm, daß sogar zu dieser Jahreszeit, zu Frühlingsanfang, die Vögel schwiegen und aus dem Wald ein dampfender, feuchter Duft nach jungen Blättern und sprossender Vegetation aufstieg. Der Telthearna schimmerte, wie er sich in schnellem, lautlosem Strom nach Lak und zu der weiter unten liegenden Enge von Zeray hindurchwand. Nördlich von Lak erstreckte sich ein mehrere Kilometer breites Waldgebiet weiter nach Norden bis zu dem offenen Land um den Durchlaß von Linsho, der es von den darunterliegenden Hügeln und Bergen trennte. Von der Südgrenze dieses Waldes aus, einer dicht bewachsenen und großenteils weglosen Gegend, hatte der Bär die Schuppen und Herden von Lak überfallen.
Das Ufer war in dieser Gegend unterbrochen, nur unklar begrenzt und wand sich in einer Reihe hügelartiger Vorsprünge. Dazwischen drang der Fluß in kleine Buchten und Schluchten ein, die er mit Wasser füllte und von denen manche fast einen Kilometer weit landeinwärts führten. Die Vorsprünge, Grashügel, auf denen Bäume und Büsche wuchsen, erstreckten sich vom Ufer, bis sie zwischen dichterem Unterholz jäh an Böschungen endeten, die wie kleine Klippen über den Innensümpfen standen. Es gab viele Frösche und Schlangen, und in der Dämmerung, wenn die watenden Vögel ihre Mahlzeit beendet hatten, kamen große Fledermäuse aus dem Wald und stürzten sich über dem offenen Fluß auf die Insekten. Es war ein öder Ort, der selten aufgesucht wurde, es
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