Shardik
Genshed selbst die letzten Proviantreste: Krumen und Bruchstücke, die er aus dem Boden des Tornisters schüttelte.
»Das nächste Mal gibt es in Linsho etwas zu essen, verstanden?« sagte Schreihals zu Radu. »Sieh zu, daß sie es alle begreifen. Entweder kommen wir heute in das Scheiß-Linsho, oder wir fangen an, uns gegenseitig aufzufressen.«
Kelderek kämmte Sharas Haar mit den Fingern und suchte ihren Kopf nach Läusen ab. Obwohl er gegessen hatte, was er bekam, war er so schwach und von Hunger gequält, daß sein Bewußtsein sich trübte. Melathys’ tote Gestalt schien in seinem Auge zu haften, und sooft sie erschien, wandte er schnell den Kopf und fuchtelte mit den Händen umher, bis Shara unruhig wurde und am Ufer weiterwanderte.
»Es hat ihr jemand die bunten Steine gestohlen, nachdem wir heute morgen losgekettet wurden«, sagte Radu.
Kelderek antwortete nicht, da er plötzlich die wichtige Entdeckung gemacht hatte, daß beim Reden unnütz Energie vergeudet wurde. Das Reden erforderte, das wurde ihm klar, so viel nutzlose Mühe – sich die Worte ausdenken, die Lippenbewegungen, um sie auszusprechen, Horchen auf eine Antwort und Begreifen, was sie bedeutet –, daß es unsinnig war, seine Kraft daran zu verschwenden. Aufrecht stehen, gehen, die Kette freimachen, nicht vergessen, Bleds Blick nicht auf sich zu lenken – das waren die Dinge, für welche Energie aufgespart werden mußte.
Man bewegte sich wieder, bestimmt, denn es war seine Kette, die da über die Steine klirrte. Aber es war nicht das gleiche Gehen. Worin unterschied es sich? Inwiefern hatten sie sich alle verändert? Im Geist schien er von oben auf sie hinunterzublicken, während sie längs des Ufers dahinkrochen. Sie gingen hin und her, wie Ameisen über einen Stein, nur viel langsamer; wie träge Käfer im Herbst auf ihren Kletterreisen auf und ab über Kilometer von Grashalmen. Und plötzlich erkannte er klar, wenn auch teilnahmslos, was geschehen war: sie gehörten nunmehr der Insektenwelt an, in der alles einfach war; und von nun an würden sie, durch keinerlei eigenen Willen angetrieben, einfach das Leben hinnehmen. Sie brauchten keine Sprache, keine Gefühle, kein Gehör, kein Bewußtsein ihrer Nächsten. Sie würden sogar tagelang keine Nahrung brauchen. Sie würden nicht wissen, ob sie häßlich oder schön, glücklich oder unglücklich, gut oder schlecht waren, denn diese Begriffe waren sinnlos. Appetit und Sättigung, drängende Energie und regungslose Trägheit, Grausamkeit und Hilflosigkeit – dies waren ihre Pole. Ihr kurzes Leben würde bald enden – ein Opfer des Winters, Opfer größerer Geschöpfe, Opfer von ihresgleichen; aber auch das war nicht beachtenswert.
Immer noch fasziniert und in Anspruch genommen von seiner neuen Einsicht, überstieg er ein Hindernis, das ihn beinahe zu Fall gebracht hätte. Etwas ziemlich Schweres und Glattes, das aber nachgab. Etwas mit Stecken darin – ein Lumpenbündel mit Stecken, nein, seine Kette war hängengeblieben, bück dich, nun war sie frei, ja, natürlich, das Hindernis war ein menschlicher Körper – das hier war der Kopf – nun war er darüber gestiegen, es war fort, und da waren wieder Steine wie zuvor. Er schloß die Augen gegen das Schimmern des Flusses und machte sich verbissen daran, aufrecht zu bleiben und Schritte zu machen; ein Schritt, noch ein Schritt, dann wieder einer.
Plötzlich ertönte hinter ihm ein Schrei.
»Stehenbleiben! Stehenbleiben!«
Wie eine Luftblase aus dunkler Brühe stieg sein Bewußtsein langsam in die frühere Welt des Hörens, Sehens, Begreifens empor. Er wandte sich um und erblickte Radu, daneben Shara, die über einem Körper auf den Steinen knieten. Wie er durch den Schrei erschrocken, waren mehrere Knaben stehengeblieben und bewegten sich unsicher auf sie zu. Vorne schrie Schreihals irgendwoher: »Was ist denn geschehen, zum Teufel?«
Er hinkte zurück. Radu hielt den Kopf des Knaben auf einem Arm und spritzte ihm Wasser ins Gesicht. Es war der Knabe, den Bled am Vortag mißhandelt hatte. Seine Augen waren geschlossen, und Kelderek konnte nicht erkennen, ob er atmete oder nicht.
»Du bist über ihn gegangen«, sagte Radu. »Du bist auf seinen Körper gestiegen. Hast du das nicht gespürt?«
»Doch – nein. Ich wußte nicht, was ich tat«, antwortete Kelderek dumpf.
Shara berührte die Stirn des Knaben und versuchte, die Lumpen über dessen Brust zusammenzuziehen.
»Umgefallen, nicht wahr?« sagte sie zu Radu. »Er hat keine
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