Shardik
Richtung und sahen, daß die ganze Masse bebte, leise und schnell mit einer merkwürdigen, unerklärbaren Energie vibrierte. Es war kein Vogel oder Tier zu sehen, dennoch zitterten die Blätter auf einer Breite wie die einer Hüttenwand krampfhaft, und die langen Ranken bewegten sich heftig in leisen, schnellen Wellen. Das kleine Mädchen starrte ängstlich und doch gebannt hinter Radus Schulter hervor. Auch einige andere Kinder sammelten sich um sie und blickten neugierig hin. Radu selbst war sichtlich unsicher, ob da nicht ein seltsames Geschöpf auftauchen werde.
Kelderek hob das kleine Mädchen zu sich hoch.
»Da ist nichts zu befürchten«, sagte er. »Ich werde es dir zeigen, wenn du willst. Es ist nur eine Gottesanbeterin, die jagt – wahrscheinlich sind es mehrere.«
Radu folgte ihnen am Ufer entlang. Aus der Nähe strömten die Blüten der Schlingpflanze einen starken Duft aus, und in der Dämmerluft flogen große Nachtfalter mit handbreiten, dunkelblauen Flügeln umher. Hoch oben, unter einer geöffneten Blüte, wehrte sich ein solcher Falter im Griff einer Fangheuschrecke, die auf Beute lauernd zwischen den Blüten hockte. Sie konnten die langen Schenkel des halb in den Blättern versteckten Insektes sehen; in seinen Vorderbeinen hielt es den Falter, den es sichtlich gepackt hatte, als er die Blüte umschwebte. Sie drehte den Kopf hin und her mit einer grausigen Andeutung von Intelligenz, der verzweifelten Abwehr ihres Opfers folgend, die so heftig war, daß die Heuschrecke und die Schlingpflanzen, an die sie sich klammerte, in einem leichten und ebenso schnellen Rhythmus geschüttelt wurden wie der Flügelschlag selbst. Sooft der Schmetterling müde wurde, zog ihn die Heuschrecke an ihre Mundwerkzeuge, und darauf begann er wieder, um sich zu schlagen. Während Kelderek und Shara zusahen, wurde ein paar Meter weiter ein zweiter Falter unter einer Blüte erfaßt, riß sich aber nach wenigen Sekunden los, und diese Heuschrecke stürzte, als ihr Griff gesprengt wurde, vorwärts zwischen die Blüten unterhalb ihres Sitzes. Inzwischen erlahmte der erste Falter, seine schönen Flügel schlugen nicht mehr, und gleich darauf zog ihn die Heuschrecke an sich und begann, ihn zu fressen. Die abgerissenen Flügel schwebten nacheinander zu Boden.
»Kommt heraus von dort, verdammt!« schrie Schreihals, der am Ufer näher kam. »Was treibt ihr denn dort, zum Teufel?«
»Keine Angst«, sagte Radu, als sie zu den anderen Kindern zurückgingen, die sich schon um Schreihals drängten, um ihre Handvoll Nahrung zu bekommen. »Wir würden schwerlich weit kommen, weißt du.«
Es wurde dunkel, und den Kindern, die sich zur Nachtruhe hinlegten, wurde erneut die Kette durch die Ohren gezogen. Kelderek war wieder von Radu getrennt und lag am Ende einer Kette; an einer Seite lag Schreihals, an der anderen der Knabe, der am Nachmittag von Bled verletzt worden war. Der begann im Dunkel wieder sein dauerndes, eintöniges Schluchzen, doch Schreihals glaubte wahrscheinlich – falls er ihn hörte –, daß kein Vergnügen dabei zu finden wäre, ihn vom Schluchzen abzuhalten. Nach einer Weile streckte Kelderek seine Hand zu dem Knaben aus, doch der zuckte nur zurück und begann nach kurzem Schweigen, noch lauter zu schluchzen. Schreihals sagte noch immer nichts, und Kelderek fürchtete sich vor ihm, er war zu erschöpft und mutlos, um mit seinen unbeholfenen Tröstungsversuchen fortzufahren; so ließ er sein Mitleid und die übrigen Fragmente seines Denkens in Schlaf übergehen, während sich die Mücken ungehindert an seine Gliedmaßen hefteten.
Die alte Frau aus Gelt kam langsam am Ufer herauf, in ihren Lumpen spielte das Mondlicht, ihr Schritt war lautlos auf den Steinen. Kelderek beobachtete, wie sie näher kam, zuerst verwundert, dann aber, als er sie erkannte, beruhigt in dem Bewußtsein, daß es eine Traumgestalt war. Vorsichtig zog sie die Kette aus seinem Ohr, und er schien sogar den Schmerz zu fühlen, als die einzelnen Glieder nacheinander durch das entzündete Ohrläppchen kamen. Dann kniete sie über ihm und murmelte mit ihrem eingefallenen Mund:
»Die glauben, es sieht keiner. Glauben, niemand sieht es«, flüsterte sie. »Aber Gott sieht.«
»Was willst du, Großmutter?« fragte Kelderek. »Was ist geschehen?«
Sie trug das tote Kind in den Armen, wie damals, vor Jahren, doch nun war es fest eingewickelt, von Kopf bis Fuß umhüllt. Es war nur eine Form unter ihrem Mantel.
»Ich suche den Statthalter von Bekla«,
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